Pro Specie Rara
So werden seltene Schweizer Schafrassen bewahrt
Sechs gefährdete Schafrassen verzeichnet die Stiftung Pro Specie Rara in ihrem Portfolio. Fünf davon sind auf dem Projekthof Tannenberg in Weggis anzutreffen, der von der Non-Profit-Organisation betrieben wird. Was geschieht dort? Und warum lohnt es sich, gefährdete Rassen zu bewahren?
Ein bewölkter Freitagnachmittag Mitte Oktober im luzernischen Weggis. Oberhalb des 4600-Seelen-Dorfes, das für Pendelnde am besten per Schiff zu erreichen ist, befindet sich der Pro-Specie-Rara-Projekthof Tannenberg. Auf knapp 700 Metern über Meer gelegen, gehören Wohnhaus und Stall genauso zum Hof wie 10 Hektaren Weideland, 6 Hektaren Wald und eine spektakuläre Aussicht über den Vierwaldstättersee.
Glocken-Gebimmel und «Määäh!»-Geblöke lassen erkennen, wer die tierischen Protagonisten des Projekthofs sind: Schafe. Und zwar nicht irgendwelche Schafe, sondern gefährdete Schafrassen. Denn der Projekthof Tannenberg ist kein gewöhnlicher landwirtschaftlicher Betrieb, sondern verfolgt einen ganz bestimmten Zweck: «Hier wollen wir die Chance nutzen, Projekte umzusetzen, die so im normalen Zuchtalltag nicht möglich sind», erklärt der stellvertretende Pro-Specie-Rara-Geschäftsführer Philippe Ammann. Der Biologe besucht heute den Projekthof, um sich mit dem Betriebsleiterpaar Helena Römer und Martin Gröger auszutauschen. Ammann blickt sich um. «Ich bin etwa alle anderthalb Monate hier in Weggis», sagt er. «Unsere grosse Widderherde fasziniert mich jedes Mal von Neuem. Diese Vielfalt und die genetische Breite, die man hier vor Augen hat, sind einzigartig in der Schweiz und unbezahlbar für unsere Erhaltungsarbeit.»
Aufzucht seltener Widderlämmer
Der Projekthof Tannenberg ist in der Tat ein Schweizer Unikum. Seit dem 1. Januar 2022 wird er von Pro Specie Rara betrieben. Die 1982 gegründete Stiftung setzt sich für den Erhalt seltener Arten ein.
Dazu zählen nicht nur zahlreiche Garten-, Acker- und Zierpflanzen sowie alte Obst- und Beerensorten, sondern auch 38 verschiedene Nutztierrassen. Sechs verschiedene Schafrassen gehören zum Portfolio der Stiftung, fünf davon sind auf dem Projekthof Tannenberg anzutreffen.
Einerseits lebt hier eine Spiegelschafherde. «Ein kleines Grüppchen war bereits da, als wir den Hof übernommen haben», erzählt Betriebsleiterin Helena Römer. «Wir haben diese Spiegelschafe übernommen und die Herde nach und nach vergrössert, damit sie vom Beweidungsmanagement her sinnvoll ist.» Doch dies sei nicht der Hauptfokus des Projekthofs.
«Die wichtigste Aktivität hier in Weggis ist die Aufzucht von Widderlämmern», erklärt Ammann. Gemeint sind – nebst den Spiegelschafen – Lämmer der Schafrassen Saaser Mutten, Bündner Oberländerschafe, Walliser Landschafe und der Engadinerschafe. Von diesen Arten werden im Frühling Jungtiere angekauft, die dann auf dem Projekthof aufgezogen werden. «Das Aussergewöhnliche ist, dass wir so viele verschiedene Rassen unter den gleichen Bedingungen an einem solchen Ort aufziehen», so der Biologe. «Auf diese Weise haben wir einen besseren Vergleich, als wenn Tiere auf verschiedenen Höfen aufwachsen.»
Dieser Direktvergleich der raren Schafrassen erlaubt es, unterschiedliche Veranlagungen wie Robustheit oder Parasitenresistenz zu erkennen. Auf diese Weise wird selektioniert: Geeignete Widder werden wieder verkauft, damit mit ihnen gezüchtet werden kann. Weniger geeignete werden für die Fleischproduktion eingesetzt.
Die gewonnenen Produkte vermarkten Helena Römer und Martin Gröger selbst. Mit den Mengen, die man bisher gewonnen hat, habe das gut funktioniert, sagt das Paar. «Wir haben Mischpakete direkt an Kundschaft in der Umgebung oder an Pro-Specie-Rara-Märkten verkauft. Auch in der Gastronomie haben wir vereinzelte Abnehmer gefunden», erzählt Römer. Ziel sei es auf jeden Fall, den Kundenstamm künftig noch zu erweitern. Aber: «Die Vermarkung steht nicht im Zentrum», betont Ammann. «Wir sind eine Non-Profit-Organisation und jeder gewonnene Franken fliesst wieder in den Projekthof.»
Ein Gegenpol zur Leistungszucht
Als ein Tier, das Wolle, Fleisch und Milch liefert, war das Schaf schon immer begehrt. Bereits vor 10 000 Jahren zähmten Menschen in Vorderasien Schafe und nahmen die Huftiere in ihre Obhut. Das Mufflon gilt als Stammvater der über 1000 Schafrassen, die heutzutage weltweit existieren. Diese unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht – sei es in der Grösse, punkto Fleisch- und Wollqualität oder auch in ihrer Anpassungsfähigkeit. Diese Vielfalt unter den verschiedenen Rassen ist Zeugnis jahrhundertelanger Zuchtarbeit, die angepasst wurde an die jeweiligen Rassen und Umweltbedingungen der Regionen, in denen die Rassen gehalten werden.
Für die Zucht spielt die Genetik eines Schafes eine grosse Rolle. Doch was macht eine gute Genetik aus? «Für die Erhaltungszucht unter anderem, wenn sie rar und selten ist», erklärt Helena Römer. Wer auf der Suche nach einem geeigneten Zuchtbock ist, könne im Zuchtbuch erkennen, wie stark mögliche Kandidaten mit den eigenen Auen – seinen weiblichen Schafen – verwandt sind und damit, wie hoch die Inzucht der nächsten Generation sein wird. «Wenn ein Bock über eine seltene Genetik verfügt, ist die Chance grösser, dass er von der Inzucht her auf viele Auen passt.» Ein Tier müsse aber auch frohwüchsig und robust sein, ergänzt Römers Partner Martin Gröger. «Und die äusseren Merkmale müssen stimmen, damit diese Aspekte genetisch weitervererbt werden können.» So sei ein Tier mit krummen Beinen oder einer untypischen Hornstellung nicht für die Zucht geeignet.
Hinter jeder der fünf Schafrassen, die auf dem Tannenberg in Weggis aufgezogen werden, steht ein national organisierter Zuchtverein. Um optimale genetische Voraussetzungen zu schaffen, arbeitet Pro Specie Rara eng mit den einzelnen Verbänden zusammen. «Wenn wir im Frühling Jungböcke ankaufen, wird in den Ausschreibungen auf die Bedingungen verwiesen. Züchterinnen und Züchter melden sich dann direkt bei uns», erklärt Römer. «Jedes Tier hat eine Nummer – so kann man den gesamten Hintergrund im Zuchtbuch nachlesen. Auf dieser Basis wählen wir die Böcke aus.»
Umgekehrt werde die Eignung der Tiere ebenso überprüft, wenn sie vom Projekthof Tannenberg wieder verkauft werden. «Experten der Zuchtverbände kommen dann bei uns vorbei, punktieren und bewerten die Tiere. So stellen wir gemeinsam sicher, dass nur geeignete Tiere in die Zucht gehen.» Daher sei der Austausch zwischen Pro Specie Rara und den Zuchtvereinen sehr eng, so Römer. «Schliesslich machen wir das alles hier ja mit den Verbänden und auch für sie.»
Bei allen Pro-Specie-Rara-Schafen handelt es sich um sogenannte Landrassen. Im Gegensatz zu Leistungsrassen, die meist nur auf eine spezifische Disziplin wie Fleisch oder Milch gezüchtet werden, weisen Landrassen in den einzelnen Sparten zwar keine Rekorde auf, können aber in mehreren Disziplinen respektable Leistungen erbringen.
Durch die Aufzucht der fünf raren Schafrassen versuche Pro Specie Rara so auch, einen Gegenpol zur Leistungszucht zu geben, ergänzt Ammann. «Die Leistungszucht mit ihren Eliteschauen ist gut etabliert. Da müssen wir nichts fördern. Wir konzentrieren uns auch auf den anderen, extensiveren und rareren Teil, um zu sehen, was man bewahren kann.»
Ein Hühnerstall auf dem Tannenberg
Mittlerweile leiten Helena Römer und Martin Gröger den Projekthof Tannenberg bereits im dritten Jahr – und sind zufrieden. «Es ist eine sehr interessante und abwechslungsreiche Arbeit», sagt Römer. «Es darf sehr gerne so weitergehen.» Das Paar wohnt direkt auf dem Tannenberg. Unterstützt werden sie von Maik Zimmerli, einem weiteren Mitarbeiter. Insgesamt wird der Hof mit 200 Stellenprozenten betrieben.
Gibt es mal auch eine freie Minute auf dem Tannenberg? Das sei abhängig von der Jahreszeit, meint Römer. «Oft haben wir viel zu tun, manchmal gibt es aber auch ruhigere Zeiten. Das ist aber dann meistens im Winter.»
Die Schafe stehen zwar im Vordergrund, sind aber nicht das einzige Projekt auf dem Tannenberg. Zum Projekthof gehören zwei Brutapparate, mit denen Eier von seltenen Hühnerrassen ausgebrütet werden können. Noch 2024 erhält der Projekthof einen Hühnerstall. «Ab nächster Saison haben wir die Möglichkeit, die Küken nach dem Brüten etwas länger zu behalten», freut sich Römer. Längerfristiges Ziel der Hühneraufzucht wird sein, irgendwann Legehennen in Zuchtgruppen abgeben zu können. Auch an der Schafaufzucht wird festgehalten. «In welchem Rahmen das 2025 geschehen wird, entscheiden wir anhand der Jahresbilanz», erklärt Ammann. Beim Verkauf der Tiere sei das Feedback der Zuchtverbände gut. Natürlich sei das Projekt gekommen, um zu bleiben. «Es braucht auch noch einen Moment, bis sich dieser Projekthof weiter in der Szene herumgesprochen hat. Aber nach drei Jahren spüren wir, dass das Projekt gut ins Rollen kam und nun immer mehr seinen Platz in der Szene erhält.»
Dass der Projekthof Tannenberg überhaupt von Pro Specie Rara betrieben wird, sei ein grosser Glücksfall, findet der stellvertretende Geschäftsführer. «Dieser Hof gehört einer Witwe, die uns schon lange unterstützt. Sie hat es sich zum Ziel gemacht, mehr Biodiversität hierherzubringen. Daher kam sie auf uns zu und hat uns gefragt, ob wir den Hof für sie betreiben möchten.» Mit einer eigenen Stiftung habe sie es ermöglicht, dass das dreiköpfige Team angestellt werden konnte. «Das erlaubt uns, dass wir uns als relativ kleine Schweizer Stiftung einen eigenen Projekthof leisten und somit auch im praktischen Sinne etwas zur Erhaltung seltener Nutztierrassen beitragen können», sagt Ammann. «Etwas Vergleichbares gab es bei Pro Specie Rara innerhalb ihres Erhaltungsnetzwerks mit gut 3000 Tierhaltenden noch nie.»
38 gefährdete Nutztierrassen
Insgesamt setzt sich Pro Specie Rara für den Erhalt von 38 gefährdeten Nutztierrassen ein. Nebst den sechs erwähnten Schafrassen gehören dazu verschiedene Geflügel-, Ziegen- und Kaninchenrassen, aber auch Rinder, Schweine und einzelne Arten wie die Dunkle Biene, der Appenzeller Sennenhund oder das Freiberger Pferd. Um deren Erhalt zu sichern, arbeitet Pro Specie Rara mit einem Netzwerk zusammen, das schweizweit aus Züchterinnen und Züchtern besteht.
Doch ab wann gilt eine Rasse eigentlich als selten? «In der Fachwelt reden wir nie von ‹selten›, sondern wir kategorisieren ‹nicht gefährdet›, ‹gefährdet› oder ‹kritisch›», erklärt Philippe Ammann. Die Definition sei nicht immer eindeutig. Pro Specie Rara erachte folgende Aspekte als wichtig: «Das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Tieren und damit die effektive Populationsgrösse, der Inzuchtgrad, die geografische Lage sowie auch soziologische Aspekte der Züchterinnen und Züchter. Fehlt zum Beispiel der Züchternachwuchs bei einer Rasse, führt das zu einer heikleren Einschätzung des Gefährdungsgrades», erklärt Ammann. Damit Pro Specie Rara eine Rasse aufnimmt, müssen zwei Kriterien erfüllt werden: Einerseits muss es sich um eine alte, traditionelle Schweizer Landrasse mit einem landwirtschaftlichen respektive soziokulturellen Hintergrund in der Schweiz handeln. Andererseits muss die Rasse – basierend auf den von Ammann genannten Aspekten – als gefährdet eingestuft werden.
Fokus auf Schweizer Nutztierrassen
Allerdings habe sich die Arbeit von Pro Specie Rara über die Jahre auch verändert, erzählt Ammann. «Als wir vor 40 Jahren gegründet wurden, hat noch niemand von Biodiversität gesprochen.» Die Herangehensweise sei damals noch etwas anders gewesen. Es seien auch Rassen als erhaltungswürdig eingestuft worden, deren Wurzeln nicht unbedingt in der Schweiz liegen, die aber hierzulande eine traditionelle Rolle in der Landwirtschaft gespielt hatten. Ein Beispiel: Die Pommernente, bekannt als gute Eierlegerin und für ihr feines Fleisch, wurde ab ca. 1920 in der Schweiz gezüchtet und ist eine der 38 Pro-Specie-Rara-Nutztierrassen. Ursprünglich stammt sie jedoch aus dem deutschen Vorpommern. «So haben wir Rassen in unserem Portfolio, die ursprünglich nicht schweizerisch sind», erzählt Ammann. «Mittlerweile setzen wir uns aber hauptsächlich für Schweizer Nutztierrassen ein.»
Nun könnte man sich als Laie fragen: Warum dieser Aufwand für gefährdete Nutztierrassen und Pflanzensorten? «Einerseits bedeutet genetische Vielfalt Sicherheit», betont Ammann. Gibt es innerhalb einer Rasse genügend Variabilität, bestehe eine grössere Chance auf mehr Tiere, die mit Veränderungen wie Seuchen oder dem Klimawandel klarkämen. Der andere Aspekt sei der kulturelle Wert. «So wie man historische Gebäude wie zum Beispiel eine alte Mühle bewahrt, wollen wir auch mit den alten Rassen ein Kulturgut lebendig erhalten. Eine Appenzeller Geiss gehört zu einem Appenzeller Alpaufzug, mit dem Rätischen Grauvieh wird heute im Kanton Graubünden Marketing betrieben.»
Diese Arbeit funktioniert nur dank einem Netzwerk, das aus vielen Menschen und Höfen über das ganze Land verteilt besteht. So verlegt die Stiftung per Anfang 2025 ihren Hauptsitz von Basel nach Wildegg AG. In unmittelbarer Nähe zum bestehenden Schaugarten auf Schloss Wildegg, wo seltene, aber selbst zu vermehrende Ackerpflanzen gezeigt werden, und zur Samengärtnerei, die sich seit 2019 der Vermehrung anspruchsvoller Gemüse- und Zierpflanzenarten widmet, soll auf dem Felsberg «ein Hotspot der Biodiversität entstehen, wo auch zukunftsweisende Projekte Platz finden».
Diese Verlegung – wie sämtliche Arbeiten von Pro Specie Rara – ist nur dank der Unterstützung vieler Menschen möglich. «Wir sind sehr abhängig von Spenden – gerade im Tierbereich, weil wir eben als Stiftung nicht profitmässig unterwegs sind.» So kann man eine Gönnerschaft oder eine symbolische Tier-Patenschaft übernehmen. Gesucht seien aber auch Halterinnen und Halter. Wer für ein Tier Platz hat, kann sich auf der Vermittlungsplattform www.tierische-raritäten.ch umsehen. «Alle, die Interesse haben, praktisch mitzumachen, sind hoch willkommen.»
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