Ein Vormittag Mitte November auf dem Greifenhof: Mathias Hubacher und Mitarbeiterin Jana widmen sich in der Zucht- und Pflegestation ihren alltäglichen Aufgaben. Hubacher öffnet eine Pflegebox an der Wand. Darin liegt die Patientin – ein Waldkauzweibchen mit einer Verletzung am rechten Flügel. Er nimmt sie vorsichtig aus dem Kasten, platziert sie auf der Waage und legt ihr ein Tuch über die Augen. «Wenn man Greifvögel und Eulen auf den Rücken legt und ihnen die Sicht nimmt, werden sie stoisch ruhig.» Nach der Waage ist vor dem Medikament. Mit geübtem Griff öffnet Hubacher dem verletzten Vogel den Schnabel, während sich Jana mit der Spritze nähert. Nach wenigen Sekunden hat das Waldkauzweibchen die Flüssigkeit intus. Zum «Dessert» gibt es eine Maus, welche die Patientin in wenigen Happen verschlingt – nur ein Stück vom Schwanz schaut am Schluss noch aus dem Schnabel.

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Für Greifvögel und Eulen, die wie das Waldkauzweibchen auf Intensivbetreuung angewiesen sind, bietet der Greifenhof zehn Plätze. Meistens bringen Wildhüter oder Privatpersonen die Tiere vorbei. Danach findet eine Ersttriage statt: Nur die Vögel, die Heilungschancen haben, dürfen hierbleiben. Erholen sie sich von ihren Verletzungen, werden sie wieder dort ausgesetzt, wo sie gefunden worden sind.

Ein langer, steiniger Weg

So alltäglich diese Pflege für Hubacher und Jana ist, so neu ist das Konzept des Greifenhofs. «Die Innovation dieser Anlage ist, dass wir drei verschiedene Haltungsformen unter einem Dach vereinen: Zuchtvögel, Beizvögel und Pfleglinge. Das gibt es meines Wissens sonst nirgends in der Schweiz», erzählt Hubacher. Mit der Eröffnung dieser Anlage hat sich der 49-Jährige im September einen Kindheitstraum erfüllt. Denn: «Vögel waren schon als Bub mein Hobby.» Das erste Mal mit einem Greifvogel in Berührung kam Hubacher, als er im Kindesalter wegen eines überfahrenen Dachses einen Wildhüter anrief. «Als dieser den Kofferraum seines Autos öffnete, befand sich ein verletzter Turmfalke darin.» Eine prägende Begegnung für einen Jungen, der diesen Vogel bis anhin nur aus der Distanz oder in Zeitungen gesehen hatte. «Nach dieser ersten Berührung wusste ich, dass ich mit Greifvögeln zusammenarbeiten muss.» Zu Hause habe er seine Mutter angebettelt, eigene Falken haben zu dürfen. «Damals hatten wir die TierWelt abonniert – ich habe die Inserate immer danach abgesucht.» Hubachers Wunsch erfüllte sich schliesslich, als er 14 Jahre alt war. «Mein Grossvater half mir, aus einem alten Häckselladewagen eine Voliere zu bauen, in der ich meine ersten eigenen Turmfalken angesiedelt habe.»

Mit zunehmendem Alter habe er sich durch Literatur und Reisen immer intensiver mit Greifvögeln befasst; später schliesslich die Jagdberechtigung erlangt und die Falknerprüfung absolviert. Als sich sein Hobby herumgesprochen hatte, seien ihm oft verletzte Vögel vorbeigebracht worden, erinnert sich Hubacher. «Ich erklärte den Leuten jeweils, dass es zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Als Falkner konnte ich nicht einfach Wildtiere aufnehmen und pflegen – das erfordert ganz andere Bedingungen.» Dennoch reifte so ein Gedanke. «Unsere Voliere war zu diesem Zeitpunkt bereits in die Jahre gekommen. Ich sagte mir, wenn wir hier etwas Neues machen, dann aber richtig.» Hauptberuflich hatte es Hubacher aber in eine komplett andere Richtung verschlagen. «Eigentlich habe ich einen betriebswirtschaftlichen Hintergrund und arbeitete auch lange in diesem Bereich – zuletzt 16 Jahre bei der BKW Energie AG, unter anderem als Prokurist. Doch ich wusste, dass ich auch mal noch etwas anderes machen will, als Geld für Aktionäre zu verdienen.»

2020 startete Hubacher mit einem Vorprojekt. «Bevor wir etwas auf die Beine stellten, wollten wir abklären, was hier überhaupt gebaut werden kann.» Doch auf eine eingereichte Bauvoranfrage folgte eine Ablehnung, weil sich das Grundstück nicht nur in der Landwirtschaftszone, sondern auch in einem Landschaftsschongebiet befindet. Dank der Unterstützung des Jagdinspektorats und des Veterinäramts des Kantons klappte es im April 2021 doch mit der Baubewilligung. Wenige Monate danach gründete Hubacher den gemeinnützigen Verein Greifenhof, «um die finanziellen Mittel für das Projekt zusammenzustellen». Finanzielle Unterstützung vom Kanton gibt es bis heute nicht. «Eigentlich gehören die Wildtiere den Kantonen», sagt Hubacher. «Wir hoffen, dass uns der Kanton irgendwann unterstützt. Momentan sind wir auf Spenden angewiesen.»

Mit der Idee, wie das Projekt letztendlich aussehen soll – «wir wollten eine eierlegende Wollmilchsau schaffen» – war klar, dass sich die Projektkosten auf rund 150 000 Franken belaufen. Eine Summe, die der Verein 2023 zusammentrug, allerdings mit vielen Rückschlägen und Absagen verbunden. Es habe Zeiten gegeben, in denen er nicht geglaubt habe, dass aus dem Projekt Realität werden würde. «Wir waren eine neue NGO, auf die niemand gewartet hat. Die Kontakte mit den Stiftungen mussten wir uns erst aufbauen.»

Doch der Verein erreichte das Spendenziel; damit stand dem Bau im Frühjahr 2024 nichts mehr im Weg. Über 1000 Stunden Eigenleistung stecken im Bau. «Wir haben überall mitgeholfen. Wegen des nassen Wetters standen wir manchmal bis zu den Knien im Schlamm.» Umso schöner sei es gewesen, als der Greifenhof im September bei Sonnenschein und mit viel Publikum endlich eröffnet werden konnte, erzählt Hubacher. «Es war sehr emotional, zu sehen, was man erreichen kann, wenn man hartnäckig bleibt und an sein Ziel glaubt. Das hat mich stolz gemacht.»

Ein Bewusstsein schaffen

Aus der Idee der «eierlegenden Wollmilchsau» ist Realität geworden. Denn die Pflegestation ist nur ein Standbein des Greifenhofs. Mit seinem Habicht Housi geht Hubacher auf Beizjagd, um landwirtschaftliche Kulturen vor Krähenvögeln zu schützen. «Wenn ein Greifvogel auf einem Feld eine Krähe erbeutet, hat der Bauer vielleicht drei Wochen Ruhe. Doch längerfristig braucht es verschiedene Vergrämungsmassnahmen.» Zu diesem Zweck kooperiert Hubacher auch mit Kollegen der Falknerei-Vereinigung. Denn: «Verschiedene Greifvögel eignen sich für verschiedene Aufgaben».

Die Welt der Greifvögel und Eulen der breiten Bevölkerung näherzubringen, ist ein erklärtes Ziel des Greifenhofs. Führungen, Workshops, Coachings oder Team-Events können hier gebucht werden. Durch den Umgang mit den Tieren liessen sich viele Parallelen in die Geschäftswelt ziehen, betont Hubacher. «Ein Prinzip, an dem wir Falkner uns orientieren, besagt: Führe mit Kopf, Herz und Verstand. Das kann man gut in die Geschäftswelt transferieren.»

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So sind regelmässig Privatpersonen, Familien, Vereine oder Schulklassen in Walkringen anzutreffen. Auch Zuchtprogramme von seltenen und bedrohten Arten wie dem Steinkauz werden hier betrieben. «Es nützt aber nichts, wenn wir sie einfach nur züchten und dann freilassen, wenn ihre Lebensräume nicht mehr vorhanden sind», so der Gründer. Massnahmen wie ein Pflanzenlehrpfad, eine Benjeshecke, Laub- und Steinhaufen und Nisthilfen für Singvögel und Fledermäuse sorgen daher für Biodiversität auf dem Gelände. «Wir möchten allen, die hierherkommen, eine Inspiration bieten, was sie selbst machen können – sei es zu Hause oder bei der Arbeit», sagt Hubacher. Um Lebensräume zu sichern, arbeitet der Betriebsleiter auch mit Unternehmen wie der Swisscom zusammen. «Wir untersuchen ihre Standorte und besprechen, was für die Biodiversität getan werden kann. Dabei geht es nicht nur um Vögel, sondern um den ganzen Kreislauf eines intakten Ökosystems.» Die Reaktionen auf die Tätigkeiten des Greifenhofs seien bisher ausschliesslich positiv ausgefallen, schildert Hubacher. «Es ist schön zu merken, dass man an einem Projekt arbeitet, das dem Zeitgeist entspricht. Biodiversität ist schliesslich in aller Munde.»