Luzerner Elmer heisst eine der Taubenrassen, die im Herbst an der Expo der Stiftung ProSpecieRara zu sehen war. Mit ihren voll befiederten Beinen und der Spitzkappe hat sie optisch wenig gemeinsam mit den gurrenden Vögeln, die Städter verächtlich «Luftratten» nennen. Und doch gehen Stadt-, Haus- und Rassetauben auf dieselbe Stammform zurück. Vereinzelte Forscher vertreten die Theorie, dass mehrere Arten wilder Tauben Pate standen.

Die meisten Ornithologen gehen davon aus, dass die schlicht gefärbte blaue Felsentaube (Columba livia) die Ahnin ist. Ursprünglich beschränkte sich ihr Lebensraum auf Vorderasien, Nordafrika und Europa, wo sie einfache Nester in Felsennischen und -höhlen baute. Wann genau Felsentauben domestiziert wurden, ist unbekannt. Es wird vermutet, dass sie vor 10 000 Jahren den nomadisierenden Jägern und Sammlern folgten und so ihren Lebensraum ausdehnten. Ihre Nachfahren haben sich mittlerweile auf allen Kontinenten verbreitet.

Die Menschen verschmähten die Gelege der Wildvögel auf ihrer Wanderschaft wohl kaum. Zumindest belegen archäologische Funde, dass der Mensch Tauben als Nahrungsquelle nutzte. Die ersten schriftlichen Hinweise für die Domestikation finden sich in über 5000 Jahre alten mesopotamischen Keilschriften und ägyptischen Hieroglyphen. Als die Ackerbauern sesshaft wurden, blieben die Tauben als Kulturfolger in ihrer Nähe. Sie fühlten sich bei den Menschen wohl, da sie genügend Nahrung fanden.

Post per Taube

Die Felsentauben, so vermutet die Forschung, betrachteten die Hausfassaden als Felswände, in denen sie nisten und sich niederlassen konnten. Die standorttreuen Vögel wurden immer mehr Haustauben, die Fleisch und Eier lieferten und zuverlässig zum Schlag zurückkehrten – alles Eigenschaften, die der Mensch durch Zucht verstärkte. Aus der zweimal im Jahr brütenden Wildform entstand ein Vogel, der das ganze Jahr über Eier legt.

Ihre Fähigkeit, nach Hause zu finden, setzten bereits die Römer, Ägypter und Griechen der Antike ein. Imperator Caesar erhielt die Kunde über Unruhen im eroberten Gallien via Botentauben. Und auch in beiden Weltkriegen war die Taubenpost unverzichtbar für die Nachrichtendienste. Im Ersten Weltkrieg waren geschätzt 100 000 Brieftauben im Einsatz.

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An wichtige Informationen wie Standorte der deutschen Wehrmacht gelangten die Alliierten im Zweiten Weltkrieg im Zuge der Operation Columba. Im Dienst der US-Armee standen 54 000 Tauben und bei den Briten waren es bis zu 250 000 Vögel. Die Deutschen ihrerseits setzten dressierte Falken ein, die Brieftauben während des Krieges äusserst erfolgreich abfingen.

Im Kalten Krieg verdrängten neue modernere Telekommunikationsmittel die Taubenpost. Während das Schweizer Militär seine Brieftaubenabteilung erst 1997 auflöste, taten dies die meisten Armeen in den 1950er-Jahren. Mitte des 20. Jahrhunderts explodierten dann die Taubenpopulationen in den Städten. Sie brachen aus aufgegebenen oder vernachlässigten Schlägen aus und schlossen sich zu Schwärmen zusammen.

Kot als wertvoller Dünger

Ihre angezüchtete Fruchtbarkeit führte dazu, dass sich die Tauben rasant vermehrten. Das grosse Nahrungsangebot der Nachkriegs-Wohlstandsgesellschaft liess die verwilderten Nachfahren der Haustauben neue Futterquellen in den Städten erschliessen. Vielerorts gelten Stadttauben als Plage, und die Ansicht, dass ihr Kot Gebäude und Denkmäler zerstört, ist weitverbreitet. Eine Untersuchung der Technischen Universität Darmstadt zeigte aber auf, dass Taubenkot nicht materialschädigend ist.

Dabei nutzten die Menschen Taubenkot und -mist seit der Antike als wertvollen Dünger. Die Tradition, die Vögel dafür in eigenen Türmen zu halten, war bis ins 18. Jahrhundert auch in Mitteleuropa verbreitet und ging erst mit der modernen Landwirtschaft verloren. Im Schweizer Mittelland schliesslich gehörten Tauben jahrhundertelang zu vielen Bauernhöfen.

Von ihren Schlägen unter dem Stalldach schwärmten sie aus auf die geernteten Felder und suchten sich liegengelassenes Korn selbst. Bauernhoftauben seien den ganzen Tag draussen gewesen und nur nachts in den Schlag zurückgekehrt, erklärt Philippe Ammann von der Stiftung ProSpecieRara. Nicht rausgelassen hat man sie nur direkt nach dem Streuen des Saatguts. «Diese Tauben waren selbstständiger, agiler und robuster als normale Zuchttauben.»

Die Vögel bereicherten auch die bäuerlichen Speisezettel. «Taubenfleisch gilt als das am besten geeignete Fleisch, um Kranke und Verwundete aufzupäppeln», erklärt Ammann. Heute ist das Fleisch nur noch bei Kennern beliebt, sonst weitgehend von den Menüplänen verschwunden. Dies galt seit der Industrialisierung auch für die Bauernhoftauben.

Vielfalt der Schweizer Tauben

Dieses landwirtschaftliche Kulturerbe will ProSpecieRara schützen und fördern und hat sechs Rassen in ihr Erhaltungsprogamm aufgenommen. Das Ziel ist, ihre Vielfalt beizubehalten. «Eine Spitzhaube haben alle», sagt Ammann. «Die Berner und Thurgauer haben eine steilere Stirn, die Luzerner eine rundere und gebogenere Kopfform sowie einen Schnabel, der an einen Papagei erinnert.»

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An der Expo der Stiftung tippeln die Thurgauer Elmer temperamentvoll auf ihren Stangen hin und her, während die Luzerner Elmer ruhig daneben sitzen. Beide Rassen sind rahmweiss und haben einen rötlichen, sichelförmigen Halbmond am Vorderhals. Für Laien sehen sie gleich aus. Dann lenkt der Präsident des Klubs Schweizer Taubenrassen, Christoph Übersax, den Blick auf die Beine. Die Thurgauer sind unbefiedert, während jene der Luzerner bestrümpft sind. Die langen Federn lassen die Beine fast wie flauschige Pfoten wirken.

«Bauern haben die Merkmale weitergezüchtet, die ihnen gefallen haben», sagt Übersax. Früher hiess es, jeder Hof habe seine ganz eigenen Tauben – was dazu führte, dass es für diese Rassen nur ganz wenige Zuchten gibt. Je zwei in der Schweiz und in Deutschland sind es beim Luzerner Rieselkopf.

Die schwarzen Tauben mit dem weiss gesprenkelten Kopf sind zutraulich und nicht die emsigsten Flieger, sondern sitzen gerne herum. Sie werden ebenso in erster Linie aus Freude gezüchtet und um den Genpool zu erhalten wie die drei weiteren PSR-Rassen Berner Gugger, Berner Spiegelschwanz und Aargauer Weissschwanz.