Die Glocke vom nahen Kirchturm schlägt ein Uhr. Zwei Arbeiter stehen von der Parkbank auf, eilen zurück zur Baustelle, während die spärlichen Überreste ihrer Sandwiches auf dem Kieselboden von Stadttauben aufgepickt werden. Das Gefieder schillert in den Sonnenstrahlen. Ein gewohntes Bild, bekannt aus Städten Europas.

Als ein Hund heranspringt, flattert der Taubentrupp auf. Manche landen auf einem Fenstersims, weitere bringen sich in Nischen am Kirchengemäuer in Sicherheit. Dieses Verhalten weist auf ihre Abstammung von der Felsentaube (Columba livia) hin. Sie ist in Europa und besonders im Mittelmeergebiet verbreitet und lebt kolonieweise in Schluchten, an Meeresklippen und Felswänden. Nur logisch, dass die Nachfahren der Felsentaube Mauervorsprünge von Gebäuden und kaum Baumäste anfliegen. Tauben sehen Nischen im Sandstein eines Berner oder Basler Münsters genauso als Brutmöglichkeit an wie ihre wilden Verwandten eine Höhlung in einer Felsenklippe. «Strassentauben sind wieder verwilderte ursprünglich domestizierte Felsentauben. Sie sind heute weiter verbreitet als die Felsentaube und verdrängen vielerorts ihre Stammform oder vermischen sich mit ihr», sagt der Ornithologe und Kurator des Naturhistorischen Museums Bern, Dr. Manuel Schweizer.

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Mensch und Taube sind sich schon früh begegnet. Als steinzeitliche, nomadisch lebende Menschen Schutz in Höhlen unter Felsenklippen suchten, flatterten dort vermutlich bereits Felsentauben herum. Vielleicht lernten die Tauben bereits damals, dass von den Menschen immer auch Nahrungsreste anfallen – und die Menschen fingen und brieten Tauben. Der Beginn einer langen Verbindung.

Eine Spurensuche

Schriftliche Zeugnisse zu den Anfängen der Taubenzucht liegen aus dem 3. Jahrtausend vor Christus vor. Die Sumerer, eine antike Kultur im Zweistromland im Gebiet des heutigen Iraks und Irans, beschäftigten sich bereits damit. Auch Taubenmist als Dünger wurde früh entdeckt. So waren im alten Ägypten bis zu 5000 Tauben in Zuchtgebäuden untergebracht, deren Mist als Dünger genutzt wurde.

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Gut möglich aber auch, dass die Anfänge der Domestikation nicht aus Nahrungs-, sondern aus kultischen Gründen geschahen. Tauben wurde bereits in der Antike eine hohe Symbolik zugestanden. Das kommt etwa im Alten Testament der Bibel zum Ausdruck, wo Noah nach der Sintflut eine Taube losschickte, die mit einem Ölbaumzweig auf die Arche zurückflog. Sie zeigte ihm an, dass das Wasser sank und wieder Land zum Vorschein kam.

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Diese Begebenheit weist auf den hervorragenden Orientierungssinn von Tauben hin, der bereits in der Antike genutzt wurde. Tauben als Überbringer von Nachrichten. Als sie Noah aber nochmals fliegen lässt, bleibt sie aus. Für ihn ein Zeichen, dass sie Land gefunden hat. Im Christentum wird der Heilige Geist mit der Taube in Verbindung gebracht. Tauben werden als Symbole für Liebe und Frieden auch heute an Hochzeiten fliegen gelassen, genauso wie sie noch immer gezüchtet werden, hauptsächlich aus Freude an den Farben, Formen, am Flugbild oder am Rückfindungsvermögen.

«Mensch und Taube sind sich schon früh begegnet.»

Die intensive und jahrhundertealte Beschäftigung mit Tauben führte dazu, dass weltweit um die 800 Taubenrassen herausgezüchtet wurden, auch in der Schweiz. Grösse, Farbe und Befiederung unterscheiden sich erheblich. Wie ist das biologisch möglich? Carine Hürbin von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach erwähnt einen Hinweis in einer Habilitationsschrift. Dort wird vermutet, dass die Formenvielfalt möglicherweise bereits im genetischen Material der Felsentauben angelegt ist.

Philippe Ammann von Pro Specie Rara, der Schweizerischen Stiftung für die kulturhistorische und genetische Vielfalt von Pflanzen und Tieren, sagt: «Während die Kulturgeschichte der Taube in der Antike gut dokumentiert ist, liegt vieles, was im Mittelalter bis Ende des 19. Jahrhunderts geschah, im Dunkeln.» Der Zoologe kümmert sich um alte Schweizer Nutztiere. Dazu gehören auch 26 Schweizer Taubenrassen.

Zwar gebe es den Verband Rassetauben Schweiz und innerhalb dieser Dachorganisation auch den Klub für Schweizer Taubenrassen, doch beziehe man sich dort besonders auf erste Rassestandards, Würdigungen von Züchtern und Ausstellungen ab Beginn des 20. Jahrhunderts. «Obwohl immer wieder gesagt wird, dass es früher auf jedem Hof Tauben gegeben habe, ist diese Zeit kaum dokumentiert», stellt Philippe Ammann fest.

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Als die älteste Schweizer Taubenrasse gilt der Berner Gugger. Diese Taube wurde schon durch den Zürcher Arzt und Naturforscher Conrad Gesner Mitte des 16. Jahrhunderts beschrieben. Philippe Ammann erklärt: «Im Ackerbaugebiet sind Tauben verbreitet gewesen und haben in erster Linie als Nahrung gedient.» Der Selbstversorgungsgrad sei hoch gewesen. «Während Kriegen und Trockenheit war man froh um das Fleisch aus dem Taubenschlag.» Den Aufwand,einen Schlag zur Verfügung zu stellen und zu reinigen, hätte man wohl nicht betrieben ohne Fleischertrag. Ursprünglich galt Taube in Königshäusern als Köstlichkeit, in den Kriegsjahren wurde sie dann mehr und mehr zum Arme-Leute-Essen. Heute ist sie wieder Delikatesse in Gourmetrestaurants – das Taubenfleisch hat bei Sterneköchen einen exklusiven Stellenwert. Die Tauben früherer Zeit auf den verschiedenen abgelegenen Höfen entwickelten Eigenheiten in Formen und Farben. «Die hohe Fruchtbarkeit mit sechs bis acht Bruten à zwei Junge begünstigt die Selektionszucht. Es passiert sehr rasch etwas», sagt der Rassetierverantwortliche von Pro Specie Rara. Tauben seien nach Farben, Formen und Federn selektioniert worden. «Es war Rassezucht, obwohl niemand es so benannte.» Das Verständnis, eine Rasse gezüchtet zu haben, habe in der Schweiz erst Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt.

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Philippe Ammann gelangte zur Erkenntnis, dass es wohl selbstverständlich gewesen sei, dass auf einem Bauernhof Tauben lebten: «Anstatt sie zu füttern, hat man sie frei fliegen gelassen, da sie standorttreu sind.» Das Feldern der Haustauben, also die freie Nahrungssuche auf den Feldern, sei praktisch gewesen. Die Tiere blieben unter Kontrolle, da sie in den Schlag zurückkehrten, dort brüteten, doch sie benötigten nicht extra Futter. «Nur während des Aussäens hat man sie im Schlag behalten», ergänzt Philippe Ammann. Raubvögel, die Tauben schlugen, wie der Habicht, wurden damals stark bejagt.

Während seinen Recherchen fand Philippe Ammann heraus, dass Tauben früher auch einen spirituellen Aspekt hatten. «Die Taube wurde in alten Schriften als Herrgottsvogel bezeichnet, der die Seelen der Verstorbenen in den Himmel bringt.» Weiter habe er Hinweise darauf gefunden, dass man früher glaubte, dass Tauben vor Blitz schützen und für Fruchtbarkeit sorgen. «Tauben schienen also nicht nur satt zu machen, sondern auch einen gewissen Schutz zu vermitteln.»

Der Rassetaubenzüchter

Auch heute noch einen Taubenschlag im Haus hat Dominic Erismann. Der 30-Jährige aus dem aargauischen Uerkheim spricht täubisch. «Rrruh, rrruh, rruh!», gurrt er. Sein befiedertes Gegenüber plustert sich auf, legt die Federn bald wieder glatt, bläht den Kropf zu einem Ballon und gurrt zurück. Dominic Erismann strahlt und kommentiert: «Das Schöne an den Kröpfern ist ihre Zahmheit.» Der junge Mann beschäftigt sich intensiv mit seinen Pommerschen Kröpfern. «Sie gehören zu den grössten Rassetauben überhaupt», sagt er.

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Der Name weist darauf hin: Erismanns Tauben haben ausgeprägte Kröpfe. Der Züchter spricht vom Blaswerk. «Der aufgeblasene Kropf gehört zum normalen Balzverhalten einer Taube», erklärt Dominic Erismann. Bei Kröpfern sei in der Zucht auf das Blaswerk hin selektioniert worden. Ein Kröpfer-Züchter gebe sich besonders mit seinen Tieren ab. «Darum sind Kröpfer auch zutraulich.» Der Taubenfreund weist weiter auf die Belatschung hin, die Fussbefiederung. «Sie gehört zu dieser Rasse.»

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Pommersche Kröpfer werden in der Schweiz kaum gehalten. Die Rasse entstand um 1840 in Vorpommern und auf Rügen. Dominic Erismann hält noch andere Taubenrassen. Zum Beispiel Beneschauer und Cauchois. Letztere wurden bereits 1665 erwähnt und stammen aus der Normandie in Frankreich. Der Züchter weist auf deren Bavette hin, die halbmondförmige weisse Zeichnung auf dem Vorderhals. Die Taubenzüchter haben besondere Ausdrücke, wenn sie ihre Tiere beschreiben: «Die Flügel sind blau-bronze geschuppt», sagt der Kenner und spricht weiter von blaubindigen und blaufahlbindig gehämmerten Färbungen.

Dominic Erismann kennt sich aus, hat er doch die dreijährige Ausbildung zum Taubenpreisrichter beim Fachverband Rassetauben Schweiz absolviert. Seither bewertet er Tauben an Ausstellungen. Dort wollen Züchter ihre Nachzuchten beurteilen lassen. Taubenpreisrichter kennen die Eigenheiten der unterschiedlichen Rassen. Ihre Bewertung von Formen und Farben helfen, dass die rassetypischen Merkmale erhalten bleiben. So wie beispielsweise an der 101. Schweizerischen Taubenausstellung in Neuenkirch (LU) vom letzten Januar. «Wir beurteilten dort über 2000 Tauben», sagt Dominic Erismann, der auch in Deutschland und Österreich Tauben als Preisrichter bewertet. Er weist auf eine weitere wichtige Tätigkeit von Preisrichtern hin: «Wir achten darauf, dass Rassen keine Übertypisierung zeigen.» Dabei handelt es sich um übertrieben ausgebildete Eigenschaften, welche die Lebensqualität der Tiere einschränken.

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Schnuppern zur Taubenhaltung
Im August 2024 organisiert Pro Specie Rara zusammen mit dem Klub für Schweizer Taubenrassen den Einsteigerkurs «Haltung und Zucht von Pro-Specie-Rara-Taubenrassen». Mehr Informationen: prospecierara.ch – Veranstaltungen

 

Dominic Erismann hält derzeit 25 Tauben. Er setzt auf qualitativ hochwertige Tiere. «Die Zuchtzeit ist am schönsten», schwärmt der Taubenfreund. Bei ihm können sich die Tauben ihre Partner selbst aussuchen. Während er Ende Januar inmitten seiner Pommerschen Kröpfer steht, packt ein Täuber den Schnabel einer Täubin und übergibt ihr Futter. «Paarpartner müssen sich mögen», raunt Erismann, während er seine Schützlinge beobachtet. Nebenan im Schlag steht eine rote Beneschauer-Taube am Eingang ihrer Zuchtzelle. Der Züchter hat an der Wand viereckige Kästen montiert, Zuchtzellen, Ersatz für Felsnischen. Darin befinden sich Tonteller. Im Hintergrund der stattlichen rot leuchtenden Taube schimmern zwei weisse Eier in einem Teller. «Tauben bauen kaum Nester oder wenn, dann solche mit wenigen Zweigen», erklärt Dominic Erismann. Es werden immer nur zwei Eier gelegt, die von beiden Partnern bebrütet würden. Nach 17 bis 18 Tagen Brutzeit schlüpfen die Jungen. Beide Eltern füttern sie mit Kropfmilch. So werden die Jungen gegen Krankheitserreger im Verdauungstrakt immun. Junge Tauben sind anfangs blind und von Flaum bedeckt. Sind die Jungen eine Woche alt, füttern sie die Eltern mit aufgeweichten Körnern. Nach einem Monat verlassen sie das Nest, werden aber noch weitere zwei Wochen durch die Eltern gefüttert.

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Tauben sind Charaktertiere

Dominic Erismann betont: «Tauben brauchen Luft und Trockenheit, Kälte macht ihnen nichts aus. Sie mögen Sonne und baden gerne.» Er hält seine Tiere in einem Offenschlag. Das heisst: Sie haben einen wettergeschützten Bereich, jedoch keinen geschlossenen Innenraum und eine offene Front. Seine Tiere füttert der Züchter mit einer Körnermischung bestehend aus Getreide und Hülsenfrüchten. Dazu reicht er Grit, ein Mineraliengemisch mit Steinchen. Tauben picken sie auf, weil sie in ihrem Muskelmagen Körner zermalmen.

Dominic Erismann wohnt im ausgebauten Bauernhaus seiner Grosseltern. Ins Dach eines Schopfs ist ein Taubenschlag integriert. «Hier will ich im Sommer Tauben frei fliegen lassen», sagt der Rassetaubenspezialist, der auch Vorstandsmitglieds des Sondervereins Kropftauben Schweiz ist. Ein Täuber fliegt auf einen rundlichen, hölzernen Sitz im Schlag, direkt vor das Gesicht Dominic Erismanns. Der Vogel trippelt an Ort und gurrt zu seinem Pfleger. Der junge Mann lächelt und schwärmt: «Jede Taube hat einen eigenen Charakter.»

Hochzeitstauben
Tauben symbolisieren im Lauf der Geschichte Liebe, Treue und Frieden. Sie werden auch heute noch an Hochzeiten aufgelassen. Das Rückfindevermögen von Tauben ist legendär und bis heute nicht ganz geklärt. Sie fliegen immer wieder in ihren angestammten Schlag zurück. Das machen sich Brieftaubenzüchter zunutze. Sie trainieren Brieftauben auf Distanzflügen. Sogar Armeen profitierten davon und nutzten Tauben als Nachrichtenüberbringer. Brieftauben werden aufgrund ihres Flugvermögens selektioniert. Der Vorfahr der Brief- ist ebenfalls die Felsentaube. Die Brieftaubenzüchter führen eine Liste mit Züchtern, die Tauben an Hochzeiten auflassen, wenn sie in der Region des jeweiligen Schlags stattfinden. So sind die Strecken für die Tauben zurück zu ihrem Schlag nicht zu lang, und sie können ihre Flugmuskulatur stärken.
brieftaubensport.ch – Hochzeitstauben

 

Dass Tauben Charaktertiere sind, fand bereits Charles Darwin. Rassetauben trugen ebenso zur Entwicklung seiner Evolutionstheorie bei wie die Darwinfinken der Galapagosinseln, die er während seiner 1831 begonnenen und fast fünf Jahre dauernden Weltreise mit dem Schiff Beagle sammelte. Wie DominicErismann war auch Darwin Rassetaubenzüchter. Er begann damit 1856 und zog die durch künstliche Selektion entstandene Vielfalt von Zuchttauben als Parallele zur natürlichen Selektion heran, um seine Evolutionstheorie zu untermauern. Darwin war darum auch Mitglied in Taubenvereinen. 1859 erschien sein berühmtes Werk «On the Origin of Species» (Über den Ursprung der Arten), im 1868 erschienenen Buch «The Variation of Animals and Plants under Domestication» (Die Vielfalt von domestizierten Tieren und Pflanzen) setzt er sich gezielt mit der Taubenzucht auseinander.

Bälge der Rassetauben Darwins haben bis heute überdauert – in der ornithologischen Abteilung des Natural History Museums London in Tring. Auch das Naturhistorische Museum Bern sammelt tote Exemplare von Rassetauben. «Wir sind sehr interessiertdaran», sagt der Kurator Dr. Manuel Schweizer, der gerne die Domestikation von Rassetauben dokumentieren möchte, auch anhand von genetischen Analysen.

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Tauben wie Schmetterlinge am Himmel

Die Faszination für Tauben ist weltumspannend. Als Conrad Gesner aus Zürich die Berner Gugger in seinem Buch darstellte, wurden 1590 in Indien Indische Pfautauben erstmals erwähnt. Aus dem Orient stammt auch die Tradition der Flugtauben. Franco Visonà aus Ennetbürgen (NW) ist gar überzeugt: «Die Rassetaubenzucht geht auf Flugtauben zurück.» Was er damit meint, zeigt sich bald. Vor dem Tierfreund trippeln viele Tauben auf kurz geschnittenem Rasen und picken nach Körnern. Franco Visonà nimmt einen Bambusstab in die Hand. Sofort halten die Tauben inne und schauen ihn an. Als der Taubenfreund den Stab leicht hebt, trippeln sie durch die offene Türe zurück in den Schlag, wie Kühe, die in den Stall trotten. Keine fliegt weg, keine bleibt draussen. Der Taubenbändiger nimmt nun einen kleineren Stab in die Hand, öffnet die Türe eines anderen Schlags mit zahlreichen weiteren Tauben. «Es sind Jungvögel», raunt er und tippt mit dem Stab sanft auf eine Taube. Sie flattert heraus. Mit zwei weiteren macht er es ebenso. Die anderen Tauben bleiben drin. Tauben, die aufs Wort oder auf die Geste hin gehorchen, wie ein gut erzogener Hund!

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«Tauben sind sehr intelligente Tiere», lobt Franco Visonà. Er beginne mit dem Training, sobald die Tauben flügge werden. Die drei Tauben trippeln im Gras. Es scheint, dass sie auf etwas warten. Auf ein Kommando Visonàs hin erheben sie sich senkrecht in die Höhe. Wie weisse Schmetterlinge flattern sie immer höher. Derweil erklärt Franco Visonà: «Es handelt sich um Wutas, griechische Sturzflugtauben.» Was das heisst, zeigt sich bald. Als die drei nur noch Punkte am Himmel sind, schiessen sie aufs Kommando des Züchters plötzlich in die Tiefe. Sie fallen wie Steine, werden immer schneller. Hinter ihnen zieht sich der Gefiederstaub wie ein feiner Nebelschleier am blauen Himmel um die Sturzflieger. Wenn sie nur nicht am Boden aufschlagen! Kurz vorher bremsen sie ab, segeln sanft und landen wieder auf dem Gras vor ihrem Züchter.

«Wie weisse Schmetterlinge flattern sie immer höher.»

Jede Flugtaubenrasse zeigt ein anderes Flugbild. So wie die Kelebek: «Sie fliegen im Schmetterlingsflug, drehen sich hoch am Himmel, flattern, ja, sie spielen in der Luft», erzählt der Flugtaubenfreund Visonà. Während ein Rassetaubenzüchter seine Tiere rein auf Farbe und Form selektioniert, achtet ein Flugtaubensportler wie Visonà auf die Flugbilder. Ob am Baikalsee Sibiriens, auf dem Taubenmarkt Istanbuls oder im türkischen Hinterland, Franco Visonà besucht überall in Asien oder im Orient Taubenfreunde. Die Türkei sei zu seiner zweiten Heimat geworden, sagt der Präsident der Vereinigung der Schweizerischen Flugtaubensportler und der Europäischen Flugroller Union. Im Orient widmen sich viele Liebhaber den Flugtauben. Bereits in osmanischen Schriften wird erwähnt, dass Sultane Tauben hielten.

Taubenwunder im Tropenwald

Die Felsentaube mit all ihren Zuchtformen ist lediglich eine von rund 300 Wildtaubenarten. Tauben sind weltweit verbreitet, ausser in arktischen Gebieten. Und es gibt sie in unterschiedlichsten Grössen und Ausprägungen. Die wohl spektakulärste und grösste ist die Krontaube. In den undurchdringlichen, stickigen Tieflandregenwäldern Neuguineas und umliegender Inseln schreiten die blau schillernden Kronenträger paarweise oder in Gruppen heimlich über düsteren, modrig riechenden Waldboden.

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Krontauben sind hauptsächlich bodenbewohnend, doch Nester werden hoch oben in Urwaldbäumen errichtet, ganz nach Taubenart, liederlich mit losen Zweigen. Aus tropischen Regenwäldern von Südseeinseln stammen zahlreiche weitere Taubenarten mit wunderschön farbigem Gefieder. Dazu gehören die Dolchstichtauben aus den Regenwäldern von verschiedenen Philippinen-Inseln, die im Brustgefieder eine blutrote Färbung aufweisen, als hätten sie einen Dolchstich erlitten.

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Von wenigen philippinischen Inseln stammt die Gelbbrust-Fruchttaube. Die Fruchttauben sind eine Unterfamilie der Tauben. Die mehr als 30 Arten stammen aus Südostasien und von ozeanischen Inseln. Sie leben im tropischen Regenwald. Meistens legen Fruchttauben nur ein Ei, ernähren sich ausschliesslich von Früchten und zeichnen sich durch ein buntes Gefieder aus. Sie wirken darum auf den ersten Blick nicht wie Tauben, sondern eher wie Papageien.

Zwischen den Fruchttauben und den eigentlichen Tauben steht in der zoologischen Systematik die Rotnasen-Grüntaube aus Afrika südlich der Sahara. Sie lebt tief verborgen im tropischen Regenwald des Kongobeckens. Noch ist es dunkel im Ituri-Wald bei Epulu in der Demokratischen Republik Kongo.

Doch aus den Laubhütten auf der kleinen Lichtung, die von Urwaldbaumriesen umgeben ist, kriechen Bambuti-Pygmäen. Die kleinen Leute, die seit Urzeiten im Regenwald des Kongobeckens leben, machen sich auf und verschwinden auf einem kaum sichtbaren Pfad im Wald. Nach Dreiviertelstunden schlägt ihnen ein penetranter Geruch von Tierdung in die Nase. Plötzlich lichten sich die Baumkronen, Sterne leuchten am Firmament. Die Pygmäen sind am Rand eines Edos angekommen, einer geheimnisvollen Lichtung im Wald, die vermutlich aufgrund von salzhaltiger Erde entstanden ist, die dort zutage tritt. Waldelefanten, Pinselohr-, Riesenwaldschweine und Vogelarten besuchen die Lichtung, um Mineralien aufzunehmen.

Als die Sonne längst ihre heissen Strahlen auf die sumpfige Lichtung sendet, beginnt das Taubenwunder. Plötzlich fliegen Tausende von Rotnasen-Grüntauben über die Bäume, kreisen, flattern. Die Luft ist erfüllt vom Klatschen ihrer Flügel. Sie landen entlang des seichten Wassers, trinken und picken von der mineralhaltigen Erde, als wären sie im Fieber. Wohin die Pygmäen auch blicken, überall hat es Grüntauben.

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Plötzlich, wie auf Kommando, ziehen die riesigen Schwärme wieder ab. Nach einer Stunde liegt das Mewa-Edo in der Mittagshitze, kaum ein Ton, so, als wäre nichts gewesen. Wo sind sie jetzt? Wohl paar- oder schwarmweise irgendwo verborgen im Blattwerk des Waldes. Die Bambuti kennen dieses Vorkommnis mitten im Regenwald und zeigen es nur wenigen Auswärtigen. So ähnlich muss es im 18. Jahrhundert auch in den USA gewesen sein, als Schwärme der Wandertaube den Himmel verdunkelten. In der Literatur wird von drei bis fünf Milliarden Tieren berichtet, deren Kolonien einige Quadratkilometer gross gewesen sein sollen. 1914 starb das letzte Exemplar im Zoo von Cincinnati, USA. Die Wandertaube wurde als Schädling bereits im 19. Jahrhundert ausgerottet.

Rettung der Mauritiustaube

Beinahe wäre auch die Rosataube, Rosentaube oder Mauritiustaube der gleichnamigen Insel für immer verschwunden. Auf der Tropeninsel im Indischen Ozean fliegen heute wieder um die 500 dieser endemischen Art; sie kommt ausschliesslich auf Mauritius vor. Wie alle Tiere der Maskarenen zeigte auch die Mauritiustaube nur wenig Scheu vor dem Menschen. Eine leichte Beute der Seefahrer, die sich auf Mauritius mit Proviant versorgten. Eingeführte Ratten, Katzen und Javaneraffen dezimierten die grossen Tropenschönheiten, der Wald wurde abgeholzt, ihre Lebensgrundlage verschwand.

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Heute aber zeigt sich auf Mauritius ein anderes Bild. Schon am Rand des Black-River-Nationalparks in den Bergen der Insel flattern Rosatauben um eine Auswilderungsstation. Unten im Tal, in den Black-River-Volieren im Ort Black River am Indischen Ozean, erklärt die Volierenleiterin Nadine Andriamanolo: «Wir benützen zur Bebrütung der einzelnen Eier und zur Aufzucht auch Lachtauben als Ammeneltern.» Lachtauben stammen ursprünglich aus Arabien und Nordafrika und werden seit Hunderten von Jahren gezüchtet. Dank dem Wissen aus der Taubenzucht konnte auch dieRosataube von Mauritius gerettet werden.

Die Taube legt immer nur ein Ei. Es wird entnommen und von Ammeneltern ausgebrütet und aufgezogen. So legen die seltenen Tauben im Schutz der Volieren nach, es entsteht eine mehrfache Eier-Ausbeute. Die Volierenleiterin berichtet, dass ein Paar meist lebenslange zusammen bleibe. Dank dem Zuchtprojekt leben heute wieder um die 500 Tauben in der Natur. Alle ausgewilderten Tauben werden mit einem Ring versehen und im Wald und an Futterplätzen durch Studentinnen und Studenten beobachtet.

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Ob eine Auswilderung mit der Socorrotaube auch wieder gelingt? Sie fliegt im Südamerikatrakt des Vogelhauses des Basler Zoos und ist auf der gleichnamigen Pazifik-Insel ausgestorben. Zoos züchten sie, um die Art zu erhalten.

Die Tauben sind wieder zurück auf dem Kieselplatz im Stadtpark. Ein Kind wirft ihnen Semmelbrösel zu und staunt über das in der Nachmittagssonne regenbogenfarbig glitzernde Gefieder. Emsig picken sie nach dem Brot. Stadttauben, Botschafter einer weit verzweigten Vogelfamilie mit grosser Symbolkraft.

 

Die Schweizer Wildtaubenarten im Überblick

Nebst der Felsentaube und den Stadttauben leben vier Wildtaubenarten in der Schweiz. Eine davon ist stark gefährdet. Nachfolgend ein Überblick. 

Turteltaube

Die Turteltaube ist die einzige Art, die gefährdet ist. Es gibt nur noch um die 150 bis 400 Paare in der Schweiz. Sie zieht im Winter in Gebiete südlich der Sahara und wird auf ihrem Zug sehr stark bejagt. Sie lebt im Kulturland und im Wald.

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Hohltaube

Auf den ersten, flüchtigen Blick sieht sie wie eine Stadttaube aus. Sie ist allerdings auf dem Land anzutreffen und brütet in Baumhöhlen in Wäldern und Hecken. Im Winter zieht die Art teilweise nach West- und Südeuropa. Sie gilt als nicht gefährdet.

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Türkentaube

Der Name verrät, woher diese Art ursprünglich stammt. Sie hat es in den letzten Jahrzehnten geschafft, sich durch ganz Europa vorzuarbeiten. Vornehmlich Junge ziehen weg, darum die Ausbreitung. Der Ruf ist unverkennbar in Wohnquartieren.

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Ringeltaube

Die Ringeltaube ist die grösste bei uns lebende Art und wirkt fast wie ein Papagei, wenn sie paarweise aus dem Gras aufflattert oder auf einem Ast herumstolziert. Teilweise zieht die Art im Winter nach Südeuropa und wird dort stark bejagt.

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