Noch immer werden Homosexualität, Transidentität und andere Abweichungen vom heteronormativen Bild über Sexualität und Geschlechter als «unnatürlich» angesehen und im Zweifelsfall mit vermeintlich wissenschaftlichen Fakten versucht, wegzuerklären. Dabei ist die Biologie komplexer, als man ahnen mag, und verläuft nicht selten ausserhalb der steifen Kategorien von Männchen und Weibchen. Längst ist bekannt, dass rund 1500 der bekannten Tierarten homosexuelles Verhalten in irgendeiner Form zeigen und es zahlreiche Organismen mit weit mehr als nur zwei biologischen Geschlechtern gibt. Das neue Buch «Queer – Sex und Geschlecht in der Welt der Tiere und Pflanzen» liefert spannende Beispiele aus der schier unendlichen Vielfalt der Natur jenseits von traditionellen männlichen und weiblichen Rollen.

So ist schon die Definition von Geschlecht im Sinne der physischen, hormonellen und genetischen Merkmale nicht immer eindeutig. Typischerweise werden Individuen als «weiblich» definiert, welche die grösseren Geschlechtszellen produzieren, während mit «männlich» jene bezeichnet werden, die die kleineren Geschlechtszellen produzieren.

Wenn es um die Sexualität geht, wird die Sache noch komplizierter. Beim Menschen bezieht sich der Begriff «homosexuell» auf eine Person, die sich zu Menschen desselben Geschlechts hingezogen fühlt. Da man Tiere jedoch schlecht fragen kann, welche Sexualität sie tatsächlich haben, muss man sich hier zwangsläufig auf Beobachtungen beschränken. So berichtete der Schiffsarzt der britischen Antarktisexpedition 1910 bis 1913, George Murray Levick, erstmals von homosexuellem Verhalten bei Adeliepinguinen (Pygoscelis adeliae). Er beobachtete sichtlich verwirrt, wie ein männlicher Pinguin mit einem anderen Männchen kopulierte. Die schriftlich festgehaltenen Beobachtungen wurden später lediglich innerhalb einer Gruppe Auserwählter des Natural History Museums London als Druck verteilt, denn über Homosexualität zu reden galt als unangemessen und dem allgemeinen Publikum als nicht zumutbar. Erst 2012 entdeckte man ein Exemplar dieses Privatdrucks und Levicks Beobachtungen gelangten in voller Länge an die Öffentlichkeit. Mittlerweile weiss man, dass mindestens ein Drittel der rund 20 Pinguinarten gleichgeschlechtliche Paare bildet, und zwar nicht nur in Zoos, sondern auch in freier Wildbahn.

Männchen lieben Männchen

Bei Giraffen (Giraffa camelopardalis) ist Homosexualität gar die Norm. In einigen Populationen sind mehr als 90 Prozent aller sexuellen Interaktionen homosexueller Natur. Meist sind es die Männchen, die ihre Hälse umeinanderschlingen und aneinander reiben. Oft beschnuppern und lecken sie sich die Genitalien, was gewöhnlich zu einer Erektion führt, gefolgt von gegenseitigem Besteigen. Da Giraffen in getrenntgeschlechtlichen Gruppen leben, kommt dieses Verhalten nicht selten vor. Aufgrund der Sozialstruktur bekommen zudem nur wenige Bullen die Chance, Nachwuchs zu zeugen, so dass manche Männchen ihr ganzes Leben lang ausschliesslich homosexuelles Verhalten zeigen.

Kann es also sein, dass homosexuelles Verhalten in der Natur nur aus «Not» — nämlich aus dem Mangel an Partnern des anderen Geschlechts — heraus entsteht? Selten hat man die Gelegenheit, Tiere ein Leben lang zu begleiten, um festzustellen, ob sich die Sexualpräferenz ändert, oder es tatsächlich rein homosexuelle Individuen gibt. Nicht so beim Hausschaf (Ovis aries). Schafe wurden bereits vor rund 10 000 Jahren domestiziert und leben somit schon länger in unmittelbarer Nähe zum Menschen. Untersuchungen zufolge zeigen etwa acht Prozent aller Schafsböcke ein dauerhaftes Interesse für Männchen, selbst wenn sie die Gelegenheit hätten, ein Mutterschaf zu bespringen. Somit können beim Schaf eindeutig homosexuelle Individuen identifiziert werden. Diese Beobachtung beschränkt sich nicht nur auf domestizierte Tiere; auch die wilden Verwandten des Hausschafs zeigen queeres Verhalten. Männliche Dickhornschafe (Ovis canadensis) umwerben und besteigen regelmässig andere Widder, und bei den Dall-Schafen (Ovis dalli) belecken die Männchen sich auch gegenseitig ihre Genitalien. Berichten zufolge soll es für die Weibchen mitunter schwierig sein, das Interesse der Böcke zu erregen. So sollen manche Männchen sogar das Verhalten von Weibchen nachahmen, um nicht in den Fokus der anderen Männchen zu geraten.

Doch nicht nur Männchen zeigen in der Tierwelt homosexuelles Verhalten, auch Weibchen können queer sein. Bei der Westmöwe (Larus occidentalis) bilden etwa 14 Prozent der Weibchen gleichgeschlechtliche Paare und ziehen ihre Jungen gemeinsam gross. Die Entdeckung im Jahr 1977 wurde kontrovers (und politisch) diskutiert, und zog zahlreiche weitere Studien nach sich, die alle zum selben Ergebnis kamen: Gleichgeschlechtliche Paare sind bei vielen Möwen- und anderen Vogelarten keine Seltenheit. Den Rekord hält der Laysan-Albatros (Phoebastria immutabilis), bei dem rund31 Prozent der Paare aus zwei Weibchen bestehen. Bemerkenswert ist, dass jeweils nur ein Teil der Weibchen sich zuvor mit Männchen paart. Auch unverpaarte Weibchen legen Eier, jedoch sind diese nicht befruchtet.

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Zwischen männlich und weiblich

Während bei den Möwen die Männchen und Weibchen schwer voneinander zu unterscheiden sind, so gibt es bei anderen Arten Tiere, bei denen offenbar mehr als zwei Geschlechter existieren. Bei der Weisskehlammer (Zonotrichia albicollis), einem unscheinbaren nordamerikanischen Singvogel, teilt sich die Population in zwei Farbmorphen. Die Hälfte der Vögel hat einen schwarzen Kopf mit einem weissen Streifen in der Mitte, die andere Hälfte einen braunen Kopf mit einem hellbraunen Streifen. Bei der Paarbildung ziehen sich Gegensätze dann an, denn die Tiere paaren sich praktisch nie mit einem Partner ihres eigenen Farbtyps. Forscher haben herausgefunden, dass der Grund dafür in der Genetik liegt: Die Geschlechtschromosomen der Weisskehlammer haben sich so entwickelt, dass praktisch vier Geschlechter entstanden sind, von denen sich jeweils nur zwei untereinander fortpflanzen können.

Andere Tiere lassen die Grenzen zwischen den Geschlechtern gar ganz verschwimmen. So haben die meisten Krötenmännchen der Familie Bufonidae sogenannte Ovotestis, welche sowohl Spermien als auch Oozyten, die Vorläufer von Eizellen, erzeugen können. Während der Entwicklung von Aga-Kröten (Rhinella marina) haben die Tiere ein sogenanntes Biddersches Organ, welches sich bei Männchen zur Hälfte zu Hoden, zur anderen Hälfte zu Bindegewebe, Blutgefässen, Oozyten und Eifollikel entwickelt. Kastriert man männliche Kröten, so wird das Biddersche Organ aktiv und beginnt mit der Entwicklung von Eizellen. Entsprechend wären somit alle männlichen Kröten biologisch intersexuell.

Während bei Kröten die Männchen über Ovotestis verfügen, sind es beim Maulwurf (Talpa europaea) die Weibchen. Ihr Ovarialgewebe ist voll funktionsfähig und erzeugt Eizellen, während das testikulare Gewebe keine Spermien erzeugen kann, aber für einen hohen Testosteronspiegel sorgt. Diese Hormone haben zur Folge, dass es bis zu einem gewissen Alter der Tiere sehr schwierig ist, Männchen und Weibchen zu unterscheiden, weil die Genitalien junger Maulwurfsweibchen kaum anders aussehen als denjenigen der Männchen. Und auch bei den Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta) wird es für den ungeübten Safariteilnehmer schwierig sein, Weibchen und Männchen zu unterscheiden. Die Klitoris der Hyänenweibchen ist so verlängert, dass sie wie ein Penis aussieht. Sie können sogar genau wie die Männchen eine Erektion haben. Als Konsequenz für diese aussergewöhnliche genitale Mimikry haben die Weibchen die totale Kontrolle über die Paarung. Die Männchen unterwerfen sich den Weibchen in Hitze, bis dieses zufrieden ist und das Männchen seinen Penis durch die Klitoris in den Fortpflanzungstrakt schieben lässt. Grundsätzlich haben bei Hyänen die Weibchen das Sagen. Sie leben in matriarchalen Clans mit bis zu130 Individuen, wobei das ranghöchste Weibchen seine Stellung innerhalb des Clans an seine Töchter vererbt.

In der eher männlich geprägten Geschichte der Naturwissenschaft tat sich manch ein Forscher schwer mit seinen Entdeckungen. Und auch heute noch stossen Berichte von Homosexualität und Non-Binärität im Tierreich auf gemischte Reaktionen. Und doch zeigen die vielen Beispiele, dass die Mehrheit der Tiere da draussen höchstwahrscheinlich ein weit weniger heteronormatives Leben führen, als man glaubt.

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