Otto gibt Küsschen. Eines ums andere, Valentina Pellanda weiss sich kaum noch zu wehren. Wobei Otto für seine 240 Kilo und für den Grauen Star, an dem er seit einigen Jahren leidet, erstaunlich zart und präzise zu Werke geht. Immer schön an der linken Wange berührt der Seelöwe seine Besitzerin. Und eigentlich hat Pellanda ja nichts einzuwenden gegen die Schmatzattacken. Im Gegenteil: Mit einem Kübel voller Fischstücken hat sie Otto aus seinem Schwimmbecken herausgelockt und ihn zum Küsschengeben aufgefordert. «Otto ist ein Lausbub», sagt die 61-Jährige. «Er lernt zwar sehr schnell und gibt gerne Küsschen, aber wenn ich ihm seinen Fisch mal nicht sofort gebe, kann er auch trötzeln.»

Otto lebt gemeinsam mit seinem Halbbruder Cäsar bei Pellanda, seit einigen Monaten hier auf einem Gewerbeareal im aargauischen Wittnau. Das Seelöwen-Gespann ist ein Unikum in der Schweiz. Neben Pellanda hält nur der Zoo Basel Kalifornische Seelöwen und es gibt wohl kaum Zoo- oder Zirkustiere, die auf ein bewegteres Leben zurückblicken können.

15 Tonnen Fisch pro Jahr
Die Geschichte von Valentina Pellanda und ihren Seelöwen begann vor drei Jahrzehnten mit unschuldigen Kinderfragen. Die junge Frau betrieb gemeinsam mit ihrem Bruder ein Variété. Sie tingelte mit einem Zelt von Ort zu Ort, sang, tanzte, jonglierte. Und überall wollten die Jüngsten im Publikum dasselbe wissen: «Wo sind die Tiere?» Pellanda, die eben erst ihren künftigen Ehemann René kennengelernt hatte, machte sich also auf die Suche nach Zirkustieren, die Kinder begeistern könnten – und wurde fündig im Zoo von Gelsenkirchen. Dort waren im Jahr 1988 zwei junge Seelöwen zu verkaufen. Pellanda bezahlte den stolzen Preis von 30 000 D-Mark. 

Seither hat sie kaum einen Tag verbracht ohne Cäsar und Otto – und ohne mit ihnen zu üben. Denn schliesslich sollten die Seelöwen zu einer Attraktion werden für das junge Publikum. Zudem, sagt Pellanda, sei es wichtig, die Tiere zu beschäftigen. Cäsar und Otto lernten also kleine Kunststückchen wie Küsschen geben, im Becken nach einem Stein tauchen und zurückbringen oder mit einem Ball jonglieren.

So wie es nun Cäsar auf dem mit grünem Filz überzogenen Podest vor seinem Becken tut. Mühelos balanciert er zuerst einen kleinen, dann einen grossen Plastikball auf seiner Nase. Zwischen diesen kleinen Vorführungen verspeist er mehrere Kessel voller Fische, die Pellandas ukrainischer Gehilfe herbeiträgt. 30 bis 40 Kilo Fisch fressen die beiden Seelöwen Tag für Tag, fast 15 Tonnen pro Jahr. Und nicht nur Otto, auch Cäsar hat so seine Tricks auf Lager, um schneller ans Fressen zu kommen: Kaum stellt Pellanda den Kessel auf das Podest, stösst ihn Cäsar mit seiner Schnauze um und verschlingt die herausgepurzelten Fischstücke. Kein Wunder, bringt er 330 Kilo auf die Waage. Trotz des Schabernacks bezeichnet Valentina Pellanda Cäsar als den folgsamen und disziplinierten ihrer beiden Schützlinge.

Die Ausreisser vom Lago Maggiore
Alle Disziplin konnte allerdings nicht jenen Vorfall verhindern, den Pellanda heute als das grösste Abenteuer ihres Lebens bezeichnet. Im Sommer 1994 gastierte Valentinas Variété in Ascona, auf der Piazza Lungolago, direkt am Lago Maggiore. Am Abend watschelten Otto und Cäsar jeweils zur Aufführung von ihrem Schwimmbecken ins Zirkuszelt. Am Mittwoch, den 13. Juli, aber hatten ein paar Zaungäste die glorreiche Idee, die beiden Seelöwen anzufassen und rannten auf die Tiere zu. Otto und Cäsar erschraken und flüchteten dorthin, wo sie sich am sichersten fühlten: in den See.

Valentina Pellanda lief den beiden nach, rief sie, charterte ein Motorboot, suchte, rief vom Boot aus, bot Helfer auf – alles vergeblich. Zwei Tage lang blieben Otto und Cäsar spurlos verschwunden. Dann endlich erreichte ein Funkspruch die verzweifelte Dompteurin auf ihrem Suchboot: «Seelöwe auf dem Campingplatz bei Tenero gesichtet!» Es war Otto. Tatsächlich gelang es Pellanda, ihn auf ihr Motorboot zu locken. Cäsar jedoch blieb weitere drei Tage im See. Er schwamm 80 Kilometer weit über die Landesgrenze bis nach Sesto Calende in Italien. 

Ein Kurzfilm über das Abenteuer von Cäsar und Otto im Lago Maggiore:

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«Seelöwen verbringen 80 Prozent ihres Lebens an Land», sagt Pellanda. «Diese fünf Tage jedoch war Cäsar ununterbrochen im See; als wir ihn fanden, fühlte er sich sichtlich unwohl.» Erschöpft schwamm der Seelöwe schliesslich an Land und legte sich im Garten eines Hauses auf die von der Sonne aufgeheizte Kühlerhaube eines schwarzen Alfa Romeos. Mit Otto im Tour-Sattelschlepper fuhr Pellanda in den Garten – und bald waren alle wieder vereint.

Die Flucht machte Cäsar und Otto über Nacht berühmt. Zeitungen, Radios und Fernsehstationen in ganz Europa berichteten über die beiden «Ausreisser vom Lago Maggiore», was sicher kein Nachteil war für ihre Karriere: Die Seelöwen hatten in den nächsten Jahren Auftritte im Circus Krone, Europas grösstem Zirkus, und sie waren fünf Mal zu Besuch bei Günther Jauchs «Stern TV», bei Stefan Raab, bei Dieter Bohlen, bei Kurt Aeschbacher. Das seien tolle Erlebnisse gewesen, erzählt Pellanda – bloss bei der Erinnerung an den Auftritt bei Bohlen verdreht sie die Augen. «Der hört nicht zu, da kann es nicht gut kommen.»

Denn auch wenn Tierschützer Valentinas Shows immer mal wieder kritisierten und sie ihre beiden Seelöwen nur dank einer platzmässigen Ausnahmebewilligung in den beiden Plastikbassins halten darf: Für sie, das betont sie, sei das Wohl der Tiere immer vorgegangen. «Ich zwinge Cäsar und Otto nicht, etwas zu tun, wenn sie keine Lust haben.» Darum sei es ihr auch beim Fernsehen immer wichtig gewesen, den Moderatoren vor dem Auftritt zu zeigen, wie sie arbeitet, was möglich sei, was nicht. Mit Jauch und Raab sei das perfekt gewesen, schwärmt sie. Aber Bohlen … 

Lichte Momente für Demenzkranke
Heute gibt es keine TV-Shows mehr mit Cäsar und Otto. Denn mit ihren 28 Jahren sind die beiden wahre Seelöwenopas. In freier Wildbahn beträgt die Lebenserwartung von Kalifornischen Seelöwen ungefähr 16 Jahre, in menschlicher Obhut etwa 25. Weltweit seien momentan bloss neun Seelöwen in Zoos bekannt, deren Alter mit jenem von Cäsar und Otto vergleichbar sei, sagt Pellanda sichtlich stolz. Für kleinere Auftritte lässt sich das Trio aber auch jetzt noch buchen. Valentina und die Seelöwen treten bei Apéros auf, bei Kindergeburtstagen und erheitern Menschen in Altersheimen. Es sei unglaublich, wie die Leute auf die Tiere reagierten, erzählt sie. So wie jene 92-jährige Frau in einem Altersheim, die an Otto den Narren gefressen hatte. «Die Betreuer erzählten mir, dass sie eigentlich unter totaler Demenz litt und alles innert fünf Minuten wieder vergass», sagt Pellanda. «Ottos Namen wusste sie noch nach einer halben Stunde.»

Otto liegt noch immer in der Sonne auf dem Asphalt des Wittnauer Gewerbeareals, wo er seiner Halterin einige Minuten vorher Küsschen gegeben hat. Er scheint sich hier gut eingelebt zu haben. 16 Jahre lang lebten Pellandas mit ihren Seelöwen in Bülach im Kanton Zürich, bis ihnen auf diesen Sommer der Standplatz für die Wohnwagen und Schwimmbecken gekündigt wurde. Valentina Pellanda wurde fast krank vor Sorge, kein neues Plätzchen für ihre Lieblinge zu finden, verschleppte gar eine Blinddarmentzündung, bis es fast zu spät war. Dass sie nun in Wittnau einen Platz gefunden hat, ist für sie das Grösste. «Ich hätte Cäsar und Otto nie weggeben können, sie sollen hier mit mir ihren Lebensabend geniessen dürfen.» 

Wobei geniessen nicht bedeutet, die ganze Zeit faul auf dem Asphalt zu liegen. Wenn der Besuch weg ist, wird Pellanda Otto wieder beschäftigen, mit ihm und mit Cäsar Kunststücke üben oder einen Spaziergang auf dem grossen Gewerbeareal unternehmen – so wie sie es jeden Tag tut. Denn, da ist sie sich sicher, eines gilt für Seelöwen genauso wie für Menschen. «Bewegung tut gut, gerade auch im Alter.»

www.valentinas-variete.ch