Streitgespräch
Zoodirektor und Tierschützerin: Liebe zum Tier in Variationen
Darf man Tiere nutzen? Als Milchkühe, Blindenhunde oder Ausstellungsstücke? Zu dieser Frage kreuzen der Zoodirektor Olivier Pagan und die Tierschützerin Christine Rüedi die Klingen.
Olivier Pagan Christine Rüedi |
Als im Berner Tierpark Dählhölzli ein Bärenjunges durch seinen Vater getötet wurde, gingen die Wogen hoch. Die Reaktionen in der Öffentlichkeit reichten bis zu Morddrohungen. Was ging Ihnen dabei durch den Kopf, Herr Pagan?
Olivier Pagan: Viele Leute sind sich nicht bewusst, welches die Aufgaben eines wissenschaftlich geführten Zoos sind. Man kommt gern in den Zoo, um Tiere zu beobachten, stellt sich aber die Frage nicht, was es heisst, Wildtiere zu halten. Die Reaktionen waren, wie oft in solchen Situationen, emotional und unüberlegt. Aber nach drei, vier Tagen legt sich der Rummel jeweils wieder.
Christine Rüedi: Menschen geniessen den Zoo, sie suchen im Zoo ein Gefühl der Harmonie, der Vielfalt und der Genialität der Natur. Sie machen sich aber oft wenig Gedanken, was es braucht, um beispielsweise Raubtiere zu füttern. Im «Dählhölzli» geschah ein Drama, doch Menschen wollen keine Tierdramen, sondern Frieden. Daraus reagieren sie emotional, denn der Mensch ist grundsätzlich tierliebend.
Sie sagen, die Menschen kommen in den Zoo, um zu geniessen und einen schönen Tag zu verbringen. Werden da natürliche Realitäten ausgeblendet? Projizieren wir eine menschliche Ethik auf Tiere?
Rüedi: Der Zoo ist eine vom Menschen geschaffene Realität, und darin liegt das Problem. Ich arbeite viel mit Kindern. Sie bringen viel Empathie mit, weil sie diese auch von ihren Eltern erfahren und erlernt haben. Menschen lernen zwar unter dem Druck der Gesellschaft auch, Fleisch zu essen, doch im Grunde möchten Menschen Tiere schützen.
Herr Pagan, gehen Zoobesucher unbewusst davon aus, dass alle Tiere Kuscheltiere sind?
Pagan: Das glaube ich nicht. Die meisten unserer Besucher suchen die Begegnung mit dem Tier. Einige wissen mehr und beobachten präziser. Mit unserem Kinderzoo geben wir gerade Stadtkindern die Möglichkeit, mit Tieren zu arbeiten, Verantwortung zu übernehmen und Respekt gegenüber dem Tier zu lernen.
Um dies zu erreichen, ist es also legitim, einige Tiere einzusperren…
Pagan: … die Tiere sind nicht eingesperrt, darauf bestehe ich! Unsere Kängurus etwa könnten problemlos aus ihrem Gehege hüpfen. Wir geben den Tieren ein Territorium. Tiere sind auch in der Natur nicht einfach frei, sie leben in einem natürlichen System von Zwängen. Sie kämpfen ständig ums Überleben, um Futter, um Partner, um die Aufzucht der Jungen, um die Verteidigung des Territoriums. Ein Zoo schafft ein künstliches System von Zwängen. Wir geben den Tieren ein Territorium, wir vermitteln ihnen einen Partner, wir füttern sie. All dies deckt den Bedarf des Tiers. Wir sollten keine menschliche Sicht in die Tiere hineinprojizieren, sondern versuchen, den Blickpunkt des Tiers zu verstehen und einzunehmen.
Ist es also legitim, den Lebensraum einiger Tiere zu beschränken, um damit die Liebe zur Natur zu wecken und damit auf die Zerstörung von Lebensräumen aufmerksam zu machen?
Rüedi: Wenn ich Ihnen, Herr Pagan, eine schicke Suite zur Verfügung stellen würde, mit allem, was Sie zum Leben brauchen, samt sozialen Kontakten, Aussicht ins Grüne oder einem Garten – würden Sie so leben wollen? Würden Sie sich nicht langweilen? Ich war kürzlich am Gehege der Menschenaffen. Ich empfand deren Leben als eingeschränkt, und ich kam mir vor wie eine Voyeurin.
Pagan: Tiere fühlen nicht wie Menschen! Menschenaffen – und andere Tiere – haben andere Bedürfnisse als wir. Sie brauchen nicht viel Platz, der Sonntagsspaziergang wurde vom Menschen erfunden. Aber sie brauchen eine Erlebniswelt. Der heutige Zoo unterscheidet sich darin fundamental von früher, als Tiere in engen Käfigen ausgestellt wurden. Wir haben uns auch ganz vom Prinzip der Tiersammlung entfernt. Heute wollen wir den Besuchern zeigen, dass uns Tiere «Geschichten» erzählen. Deshalb haben wir in der Etoscha-Anlage auch Pflanzen und Tiere von ganz klein bis zum Raubtier, um den ganzen Nahrungskreislauf zu thematisieren.
Noch einmal: Darf man Tiere halten und nutzen?
Rüedi: Nein. Für mich ist es entwürdigend, wenn die Tiere ausgestellt und damit benützt werden.
Pagan: Sie, Frau Rüedi, halten – und nutzen damit – ebenfalls Tiere, und das ist einer der grössten Widersprüche an diesem Tisch, wenn Sie sagen, es sei falsch, überhaupt Tiere zu halten.
Rüedi: Aber welche Tiere! Zu uns kommen Tiere, die sonst getötet würden! Schafe, denen man die Schwänze abgeschnitten hätte, Osterlämmer ... Aber natürlich wäre es mir auch wohler, wenn wir uns davon befreien könnten, die Tiere in Gefangenschaft zu halten.
Pagan: Wie würden Sie denn die Begeisterung der Kinder aufrechterhalten, die zu Ihnen kommen, um die Liebe zur Natur zu entdecken? Sollen sie die Tiere auf dem iPhone ansehen?
Rüedi: Ja, und dorthin gehen, wo die Tiere natürlicherweise leben.
Pagan: Und dabei CO2 produzieren? Wissen Sie, Sie machen etwas Gutes: Sie begeistern die Kinder für die Tiere. Aber wenn Sie dann sagen, jedes Lebewesen ist gleich, ist das widersprüchlich und nicht realistisch. Ich bin nach wie vor ein begeisterter Tierhalter, denn ich bin überzeugt, dass man Menschen nur dann sensibilisieren kann, wenn sie die Tiere erleben können. Auch wenn das bedeutet, die Tiere für einen pädagogischen Zweck zu verwenden!
Rüedi: Die Kinder sollen insbesondere die Tiere kennenlernen, die bei uns leben: die Blattlaus, den Schmetterling, den Fuchs, das Huhn, die Ziege…
Man soll also aus Ihrer Sicht, Frau Rüedi, keinerlei Tiere halten, egal unter welchen Bedingungen?
Rüedi: Das ist so. Es ist allerdings etwas ganz anderes, wenn wir Haustiere, die seit vielen Generationen in Abhängigkeit von den Menschen leben, vor dem Tod bewahren und zu uns nehmen, als wenn man Wildtiere ausstellt, die eigentlich in ganz andere Lebensräume gehören. Zum Beispiel Grossraubkatzen oder Somali-Wildesel.
Pagan: Gerade vom Wildesel leben in Ostafrika nur noch wenige Hundert Exemplare in der Natur. Es gibt Dürreperioden, sie werden gejagt. Dank den etwa 300 Eseln in europäischen und nordamerikanischen Zoos wird das genetische Material gestreut und erhalten. Für andere Tierarten gilt dasselbe. Wir holen keine Wildtiere mehr aus der Natur, diese Tiere träumen nicht von den Savannen, denn sie sind alle in Zoos zur Welt gekommen.
Rüedi: Sie haben vorhin von einer Erlebniswelt für die Tiere gesprochen. Aber das ist doch keine Erlebniswelt, wenn ein Tier Tag für Tag das Gleiche sieht. Mir tut das weh im Herzen, wenn ich etwa die Menschenaffen sehe, die an diesen Kisten hocken und mit Stecklein versuchen, einen Leckerbissen aus den Löchern zu grübeln. Das ist doch entwürdigend! In der Natur wären sie in den Bäumen, würden sich bedienen, essen...
Pagan: Überhaupt nicht! Sie würden sich nicht bedienen, denn die Natur ist hart! Dort stochern sie in Termitenhügeln nach Insekten – und werden manchmal dabei gebissen! Es ist eine menschliche Betrachtungsweise, wenn man meint, die Natur sei ein Paradies!
Rüedi: Ich rede nicht von Paradies, ich rede von Erlebniswelt!
Ich möchte noch auf die Tiernutzung im engeren Sinne zu sprechen kommen. Frau Rüedi, Sie haben vorhin das Recht der Menschen auf Tiernutzung bestritten. Darf ich das absolut verstehen?
Rüedi: Ich beziehe das nicht auf die ganze Menschheit. Ich habe nichts dagegen, wenn Tiere gegessen werden, wenn man sie zum Überleben braucht. Wir hingegen leben hier mit einem enormen Angebot an Nahrung, die das Töten und Essen von Tieren überflüssig macht. In der Stunde, in der wir hier sitzen, werden in der Schweiz rund 6000 Tiere getötet, ohne jede Notwendigkeit. Wir sollten uns befreien vom unnötigen Töten. Dies hätte auch eine positive Wirkung auf die Gesellschaft generell.
Nutzen ist ja nicht nur Schlachten und Essen. Nutzen heisst auch: Kühe für die Milch, Hunde als Blindenführhunde, Pferde als Therapietiere. Das wäre ja ebenfalls ausgeschlossen.
Rüedi: An sich richtig, aber hier differenziere ich. Ich leitete ja früher selber eine Blindenführhund-Schule in Allschwil. Ich übernahm aber für jeden Hund die Verantwortung bis zu dessen Ende. Da landete kein Hund in einem Tierheim ohne Kontakt zu Menschen wie in Sardinien, von wo ich kürzlich einen Hund zu mir in die Schweiz geholt habe. Ist eine Nutzung dem Wohlbefinden des Tieres zuträglich, wie zum Beispiel bei einem Blindenführhund, sehe ich darin kein Problem. Heute aber ist es so, dass männliche Küken lebendig geschreddert werden!
Es gibt einen Unterschied zwischen Tiernutzung und dieser rücksichtslosen und unwürdigen Massentierhaltung.
Rüedi: Aber der Bedarf wird so gedeckt!
Darf man Tiere nutzen, Herr Pagan?
Pagan: Ja, sofern sie ihrer Art gemäss gehalten werden. Dabei steht für mich als Zoodirektor und Tierarzt der Bildungsaspekt im Zentrum. Wenn man selber begeistert ist von Tieren, ist es legitim, diese Begeisterung weiterzugeben. In diesem Sinn nutzen wir unsere Tiere auch! Ich wurde für Tiere sensibilisiert, als ich als kleiner Junge eine verletzte Amsel gesund gepflegt habe. Das war nett gemeint, und danach wusste ich, dass ich Tierarzt werden wollte. Aber auch auf meine kindliche Art habe ich das Tier benutzt und instrumentalisiert, weil ich ausprobieren wollte, wie man ein Tier pflegt.
Herr Pagan, die Dählhölzli-Bären sind nur noch nummeriert. Tragen die Tiere in Ihrem Zoo Namen?
Pagan: Wir haben darüber diskutiert, was es bedeutet, den Tieren Namen zu geben. Bären, die in die Schweiz einwandern, werden nur mit Nummern gekennzeichnet, wie etwa M13. Wir haben uns gesagt: Ob Nummer oder Name macht letztlich keinen Unterschied. Wir halten nicht nur Arten, sondern Individuen, also können wir ihnen auch Namen geben. Was wir aber nie tun, ist Tiere zu taufen. Wenn man ein Tier zelebriert, ihm etwa den Namen Marius gibt, und es dann töten muss, dann wurde eben nicht eine Giraffe getötet, sondern Marius.
Ihre Tiere tragen auch Namen, Frau Rüedi?
Rüedi: Ja. Wir haben beispielsweise einen Esel mit dem Namen «Petit Prince». Damit ist er auch eine Art Botschaftsträger. Aber auch bei uns wird der Name nicht zelebriert, er wird einfach eingetragen.
Sie zelebrieren die Namensgebung nicht, doch Sie bezeichnen die Verrichtungen von Tieren gleich wie bei Menschen. Vermenschlichen Sie die Tiere damit nicht?
Rüedi: Ja, unsere Tiere essen, sie fressen nicht. Sie gebären, sie werfen nicht. Wir haben unsere deutsche Sprache so eingerichtet, dass wir uns klar distanzieren von den Tieren. Wir diskriminieren sie, um sie ausnutzen zu können. Doch wo ist denn der Unterschied? Wenn Tiere gebären, machen sie das Gleiche durch wie eine Frau. Wir sind ja auch eine Art Tierart. Jedes ist gleichwertig, da braucht es diese Unterscheidung nicht.
Die eine Frage ist, ob ein Tier dasselbe durchmacht wie ein Mensch. Eine ganz andere Frage ist, ob Tiere und Menschen das Gleiche sind. Kann man Tiere und Menschen auf eine Stufe stellen?
Rüedi: Selbstverständlich! Selbst eine Pflanze ist ein vollkommenes Lebewesen. Ein Tier macht keine Fehler, es handelt, wie es handeln muss. Menschen haben Entscheidungsmöglichkeiten, aber wir haben damit so viel kaputt gemacht. Wie können wir da sagen, wir seien etwas anderes – damit meinen wir etwas Besseres – als eine Schwalbe, die in den Süden fliegt und bei uns wieder das gleiche Nest findet! Vielleicht muss man sogar sagen, dass wir Menschen es sind, die einen Defekt haben!Pagan: Würde ich behaupten, dass Mensch und Tier das Gleiche sind, bekäme ich ein Problem mit meiner Funktion. Ein wichtiger Unterscheidungspunkt ist, dass Menschen sich in andere Menschen einfühlen können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich zwei Fische über ihre Befindlichkeit austauschen, wenn sie sich im Meer begegnen.
Viele Menschen halten es für realitätsfremd, Tiere und Menschen auf eine Stufe zu stellen. Frau Rüedi, braucht es diese Haltung, um Tiere vor unwürdiger Behandlung zu schützen?
Rüedi: Ja, es braucht das Zugeständnis, dass Mensch und Tier dasselbe sind, mit unterschiedlichen Ausprägungen. Alle haben wir die gleichen Rechte auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit. Noch ist es in der Realität nicht so. Es ist vielmehr ein ideologisches Fernziel. Doch ich bewahre mich davor, Tiere zu vermenschlichen – Hunde mit Mäntelchen zur Dekoration finde ich völlig pervers.
Hunde im Mäntelchen, Katzen, die im Bett schlafen – wo beginnt die Vermenschlichung?
Pagan: Vermenschlichung fängt nicht erst beim Mäntelchen an! Vermenschlichen bedeutet auch, menschliche Regungen ins Tier zu projizieren.
Rüedi: Sehen Sie, ich verabschiede mich immer von meinen Hunden, wenn ich den Raum verlasse. Dann warten sie nämlich nicht mehr auf mich. Sonst schaut er mich an und denkt: Jetzt geht sie wieder.
Pagan: Das sagen Sie, was er denkt! Aber der Hund macht nichts anderes als Sie zu lesen. Sie sollten dem Tier nicht menschliche Emotionen unterschieben.
Frau Rüedi, Sie geben die Gleichbehandlung von Tieren und Menschen als Fernziel an. Wo ist der Weg dorthin?
Rüedi: In unserer Ethikschule vermitteln wir Kindern, wie sie einfühlend auf die Tiere zugehen können. Wenn ich ein Tier sehe, kann ich nicht anders als ein wenig zu sein wie das Tier. Je näher man einem Tier kommt, desto mehr kann man es verstehen, und die Mensch-Tier-Beziehung erhält eine ganz andere Qualität.
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