Ein Zwick – ein kleiner Stich. Es fühlt sich an, als ob mir jemand Brennnesselstauden an den Rücken drückt. Der kleine, dünne Blutegel beisst mit seinen drei sogenannten ovalären Kieferplatten noch einige Male nach. Danach saugt der dunkle Ringelwurm in aller Ruhe an meinem Rücken. Ich bin angespannt. Getraue mich fast nicht zu atmen – geschweige denn mich zu bewegen.

Und doch nehme ich die Plage auf mich. Nach einem Unfall habe ich Beschwerden und einen unangenehmen Tinnitus. Und die Blut­egelbehandlung soll wahre Wunder vollbringen: Eine  allgemein blutreinigende und stoffwechselfördernde Wirkung wird ihr ebenso nachgesagt wie eine Immunstärkung, das Fördern der Geweberegeneration sowie Heilungswirkung und eine verkürzte Heilungszeit nach Sport- oder Arbeitsunfällen. Ja, sogar auf den ganzen Organismus soll das Ansetzen von Blutegeln bei intensiver Anwendung positive Auswirkungen haben. Erfolgt die Therapie kurz nach dem Auftreten der Beschwerden, sind die Heilungschancen grösser. Bei mir liegt die Ursache für meine Beschwerden bereits länger zurück. Daher sind mehrere Behandlungen angesagt.

Einige Egelbisse zwicken arg, andere brennen bloss ein klein wenig
Die Blutegeltherapeutin setzt mir in der Region des siebten Halswirbels weitere vier Egel an. Mit einem kleinen Glastrichter bringt sie die Tiere an die gewünschte Stelle. Damit die Blutegel gut beissen, dürfen vor der Behandlung auf die gewünschten Bissstellen weder Salbe noch parfümierte Kosmetikartikel aufgetragen werden. Nach dem Biss halten sich die Tierchen für ihre Mahlzeit mit ihren zwei Saugnäpfen an den Körperenden fest. Das Ansetzen der Blutegel gehört in der Komplementärmedizin zu den sogenannten ausleitenden Verfahren. Das heisst: Giftige Stoffe werden damit aus dem Körper entfernt und die Selbstheilung aktiviert.

Nicht bei jedem Tier empfinde ich den Biss gleich stark. Bei einigen zwickt es immer wieder arg. Andere Bisse nehme ich nur als leichtes Stechen und Brennen war. Im Laufe der Behandlung entspanne ich mich allmählich. Der Speichel des Blutegels enthält unter anderem Hirudin. Dieser Inhaltsstoff macht die Bissstelle bis 24 Stunden ungerinnbar. Die Blutegel-Wirkstoffe sollen aber auch die Fliesseigenschaft des Blutes verbessern und die Gefässwände stabilisieren.

Ein Blutegel saugt zwischen 10 und 20 Milliliter Blut. Dabei nimmt er nur das Dicke vom Blut, die roten und weissen Blutkörperchen sowie die Blutplättchen, auf und scheidet das Blutserum fortlaufend aus. Die Flüssigkeit läuft mir den Rücken herunter und kitzelt. Ein Blutegel kann in seiner rund 60-minütigen Mahlzeit  bis das fünffache seines Körpergewichts an Blut saugen. Im Durchschnitt sind die Blutegel vor der Mahlzeit drei bis sechs Zentimeter lang.

Weltweit sind die meisten Egelarten in ihrem Bestand bedroht
Fette, dicke Klumpen hängen an meinem Rücken. Ich spüre sie nun praktisch überhaupt nicht mehr. Sind sie eingeschlafen? Um sie aufzuwecken, muss ich mich bewegen. Anfangs getraue ich mich das nur ganz zaghaft. Ich hebe die Schultern auf und ab. Ich gehe im Raum ein paar Schritte und stelle fest, dass nichts Unangenehmes passiert. Der erste fettgesaugte «Wurm» löst sein Hinterteil und lässt sich danach fallen. Fett, vollgefressen mit meinem Blut, ganz träg liegt er anschliessend in einem Glas Wasser. Armes Ding, denke ich. Jetzt muss er wegen mir sterben. Bei einem Einsatz in der Naturheilkunde muss ein «gebrauchter» Blutegel danach aus hygienischen Gründen eliminiert werden.

In freier Natur können Blutegel nach einer Mahlzeit bis zu zwei Jahre ohne Futter auskommen und haben eine Lebenserwartung von rund 20 Jahren. Sie sind Zwitter, brauchen aber zur Fortpflanzung einen Geschlechtspartner. Sie legen nach der Paarung bis zu 20 Eier, die sie ausserhalb des Wassers in Kokons einspinnen. Nach dem Schlüpfen ernähren sich die Jungen zunächst von kleinen wirbellosen Tieren.

Es gibt rund 300 verschiedene Arten von Egeln, fast alle sind heute gefährdet. Der medizinische Blutegel gehört zu den bekanntesten und wird schon jahrhundertelang bei Mensch und Tier gegen vielerlei Leiden eingesetzt. In der Naturheilmedizin wird ausschliesslich der im Labor gezüchtete Blutegel Hirudo medicinalis verwendet.

Die Ärztin Dominique Kähler ist auf Blut­egel spezialisiert und weltweit anerkannt. Seit 16 Jahren führt sie in Wil im Kanton St. Gallen eine Praxis für Naturheilkunde und seit fünf Jahren betreibt sie die einzige professionelle Blutegel-Zucht der Schweiz. Zudem gibt sie zertifizierte Ausbildungskurse für Blutegel-Therapeuten. Erst vor Kurzem hat sie ein Buch mit dem Titel «Hirudotherapie –  Ein Handbuch der Blutegeltherapie!», geschrieben, in Zusammenarbeit mit der deutschen Biologin Magdalene Westendorff. Es beinhaltet ihre langjährigen Erfahrungen und den aktuellen Wissensstand von Medizin und Naturheilkunde.

Das rote Blut tropft mir aus der Bisstelle, die der vollgesogene Egel hinterlassen hat. Der Biss hinterlässt eine Wunde, die an einen Stern erinnert. Durch die Nachblutung verliert der Patient pro Blutegel zwischen 20 und 40 Milliliter Blut. Die Nachblutung hält bis zwölf Stunden an, manchmal sogar länger. Der dichte Verband muss fast stündlich erneuert und es darf nicht auf die Wunde gedrückt werden.

Kein Zauber, aber Verbesserungen sind spürbar
Nach der ersten Blutegel-Therapie bin ich tagelang müde und schlapp. Ich habe mit dem Kreislauf zu kämpfen, wobei dieses Symptom anscheinend nicht in direktem Zusammenhang mit dem Blutverlust steht, sondern durch das Blutegelsekret ausgelöst wird. Auf dem Rücken haben die Stiche Blutergüsse und kleine Narben hinterlassen, die mit der Zeit verschwinden. Die Stiche um die Ohren verheilen schneller. Bei den folgenden Therapien sind die Nachwirkungen nicht mehr so schlimm: Ich bin nicht mehr so lange kraftlos und müde. Dafür macht sich ein unangenehmer Juckreiz bemerkbar, und die Lymphdrüsen schwellen an. Das legt sich jedoch nach einigen Tagen.

Insgesamt lasse ich mir in sieben Sitzungen Blutegel ansetzen. Bei jeder Behandlung schwindet die Furcht und der Ekel gegenüber den Blutegeln ein wenig mehr. Mit der Zeit merke ich sogar, wann sich der vollgefressene Blutegel fallen lässt, und ich kann ihn jeweils selber mit der Hand auffangen.

Insgesamt sind meine Erfahrungen positiv. Die Schmerzen im Nacken und die dadurch verursachten, heftigen Kopfschmerzen sind deutlich gelindert worden. Ich brauche nur noch einen Bruchteil an Schmerzmitteln. Der Tinnitus dagegen ist bis anhin noch nicht verschwunden. Doch die Hoffnung, dass der Wirkstoffcocktail des Speichels der kleinen schwarzen Tiere auch dieses Symptom verschwinden lässt, habe ich noch nicht aufgegeben.