Es regnet, die Temperatur liegt nur knapp über dem Gefrierpunkt. Ein Sonntagmorgen zum Ausschlafen. Beim Wehr des Flüsschens Schüss in Biel sind denn auch kaum Menschen anzutreffen, nur ein Jogger mit Kapuze zieht seine Runde und eine dick eingepackte Frau lässt ihren Hund an den Wegrand pinkeln. Doch da taucht jemand auf, der nicht ins Bild passt. Ein junger Mann mit grossem Rucksack. Er scheint weder Nässe noch Kälte zu fürchten. Im Gegenteil – wenn nicht gerade Winter ist, steigt Nicolas Stettler oft sogar ins Wasser und bleibt eine, zwei Stunden darin. Denn so kommt er den Wasservögeln am nächsten – eine gute Voraussetzung für atemberaubende Fotos.

Am Wehr in Biel stellt er nun aber sein Stativ am Trockenen auf, montiert die Fotokamera mit dem fast armlangen Objektiv darauf. Sein Sujet wird von der Hündelerin und dem Jogger gar nicht bemerkt: ein schwarzbrauner Vogel. Mit weisser Brust, etwas kleiner als eine Amsel, der auf einer Stange beim Fischabstieg sitzt. «Dies ist einer der Lieblingsplätze der Wasseramsel», sagt Stettler. «Ich sehe sie oft hier.»  

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Mit dem Neopren im Wasser
Fast jeden Tag nach der Schule geht der 18-Jährige aus Nidau irgendwo ans Wasser. Am Wochenende sowieso, sei es an den Bielersee, den Nidau-Büren-Kanal, die Zihl oder die Schüss. Und er kehrt dann mit Hunderten von Fotos nach Hause: mal von Haubentauchern, mal von einem Eisvogel, mal von einer Biberfamilie.

Dabei waren es ursprünglich nicht Natursujets gewesen, mit denen seine Leidenschaft für die Fotografie begonnen hatte. Im Alter von zehn Jahren erhielt er seine erste Fotokamera geschenkt. Bald darauf kriegte er schon eine professionelle Spiegelreflexkamera. Mit dieser fuhr er mit seinen Eltern regelmässig nach Kloten an den Flughafen, um Flugzeuge zu abzulichten. Erst als er mal auf den Tipp seiner Grossmutter hin das Naturzentrum La Sauge am Neuenburgersee besuchte, entdeckte er, wie spannend Wasservögel für ihn waren. In den darauffolgenden Winterferien machte er sich dann bereits jeden Morgen auf die Suche nach Eisvögeln. Mit Erfolg.

Von der Fotografie zu leben wäre schon cool, aber das ist sehr, sehr, sehr schwierig.

Nicolas Stettler

Flugzeuge zu fotografieren findet Stettler inzwischen nicht mehr interessant. Da weiss er im Voraus, wann es losfliegt und wo er stehen muss, um den besten Blickwinkel zu haben. Eine Herausforderung ist das nicht. «Bei den Vögeln weiss ich nie mit Sicherheit, wo ich sie finde», sagt der Gymnasiast. Falls sie dann in Reichweite seines Objektivs kommen, ist die Freude umso grösser. Obwohl sie ihm auch schon fast zu nahe kamen. Im Frühling vor einem Jahr vergass ein Haubentaucherpaar bei der Balz jegliche Abstandsregeln, sodass es ihm schwerfiel, auf die kurze Distanz noch einen guten Bildausschnitt hinzukriegen. Doch wer sich auf seiner Website umsieht, entdeckt, dass ihm dann doch ein paar sehr eindrückliche Fotografien gelangen.

Auf die Idee, ins Wasser zu steigen, brachten ihn vor rund zwei Jahren andere Fotografen, auf die er beim Stöbern auf Instagram stiess. Er versuchte es zuerst mit dem Neoprenanzug, den er sonst zum Windsurfen benutzte. Doch fürs stundenlange regungslose Ausharren reichte der nicht aus. Also besorgte er sich ein paar vollkommen wasserdichte Wathosen und zog den Neopren darunter an.

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Zumindest die Ausrüstung finanzieren
Wenn er so im Wasser stand, die Kamera auf dem Stativ darüber ein Tarnnetz, war er aber nicht mehr so wendig, wie er es gern gehabt hätte. Also musste ein Schwimmversteck her: zwei aufblasbare Schwimmkörper mit einem Gerüst fürs Befestigen der Kamera dazwischen und einem Tarnzelt darüber. Damit fühlt er sich nun wohl. Das Ganze kann so kompakt verstaut werden, dass er es mit dem Velo transportieren kann.

Das Ding war allerdings nicht ganz billig. Und gute Kameras und Stative sind es erst recht nicht. Gelegentlich kann er ein paar Bilder für einen Kalender oder ein Buch verkaufen. Vielleicht kommt dieses Jahr auch der eine oder andere Fotokurs zustande, den er auf seiner Website ausgeschrieben hat. Aber sein Ziel, mit der Fotografie zumindest die Ausrüstung zu finanzieren, hat er noch nicht erreicht. Natürlich hat er sich auch schon überlegt, ob mehr möglich wäre. «Davon leben wäre schon cool», sagt er, «aber das ist sehr, sehr, sehr schwierig.»

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Beruflich zeichnet sich eine andere Richtung ab, zu der er aber ebenfalls durch die Fotografie gefunden hat: die Biologie. Als er immer häufiger Vögel ablichtete, las er auch über diese nach. Und er trat dem örtlichen Vogelschutzverein bei und hatte sich rasch ein beträchtliches Wissen erarbeitet. «Die Wasseramsel ist der einzige Singvogel, der richtig tauchen kann», erzählt er zum Beispiel am Wehr über den Vogel vor der Linse. Zwar begegnet er noch immer gelegentlich einer Art, die er nicht kennt. Doch dann recherchiert er, bis er die Antwort hat.

Arbeit zu den Zaunammern
Bereits als 14-Jähriger hat Stettler erstmals einen Kurs des Vogelschutzvereins mitgeleitet. Längst hat er den Blick des Ornithologen. Wo der ungeübte Beobachter knapp einen Vogel auf einem Inselchen im Flüsschen ausmacht, ist für ihn klar: Das ist eine Bergstelze. Für seine Maturaarbeit hat er die Reviere der Zaunammern nördlich des Bielersees untersucht. «Es ist keine weltbewegende Arbeit», sagt er in seiner bescheidenen Art, «aber ein erster Versuch, wissenschaftlich zu arbeiten.» In der Methodik hat er sich von einem Mitarbeiter der Vogelwarte, den er vom Vogelschutzverein kennt, beraten lassen. Einem anderen Ornithologen aus der Region hilft er bei einem Projekt zur Förderung des Wendehalses beim Kontrollieren der Nistkästen.

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Sein Portfolio zeigt, dass Vögel nicht die einzigen Tiere sind, die ihn interessieren. Da finden sich auch Steinböcke und Murmeltiere, Eichhörnchen – und sogar eine Libelle auf der Nase eines Bibers. Zu den Letzteren hat er eine besondere Beziehung. Eine Familie unweit seines Zuhauses fotografiert er seit Jahren. «Zum Teil erkenne ich sie an Narben der Schwanzflossen, die sich die Biber in Kämpfen oder von Schiffsschrauben zugezogen haben», sagt er. «Aber die Jungen sind kaum voneinander zu unterscheiden.» In den letzten beiden Sommern suchte er sie fast an jedem freien Abend auf. Sie sind beinahe Nachbarn, wohnen nur wenige Minuten von ihm entfernt.

Gerne möchte er nochmals nach Norwegen reisen. Mit der Familie ist er bereits einmal auf den Lofoten gewesen. Ihm geht es aber nicht um exotische oder seltene Arten, sondern in erster Linie um schöne Bilder. Falls das Reisen nicht möglich sein sollte, findet er auch in der Nähe genügend Sujets. Er sagt: «Es gibt keine Art, von der mir nicht noch ein besseres Foto gelingen könnte.»

www.nicolas-stettler.ch