Es ist einer dieser Novembertage, an denen der Herbst so tut, als würde der Sommer ewig dauern. Zwar hockt der Winter schon in den Bergen ringsum, grinst herab und sagt: «Ich komme dann schon noch.» Doch heute ist selbst hier im Val Trupchun T-Shirt-Wetter. Hans Lozza, Mediensprecher des Nationalparks und begeisterter Naturliebhaber, setzt den Rucksack ab, packt das Fernrohr aus und sucht den Hang nach paarungsbereiten Gamsböcken ab. «Viel zu warm, sagt er dann. «Die Böcke brauchen Kälte, um hitzig zu werden. Mit ihrem dicken Fettpolster und dem dichten Fell bewegen sie sich so wenig wie nötig.»

Also keine hitzigen Verfolgungsjagden von Gämsen, dafür die Gelegenheit, das Gesicht des 55-Jährigen zu betrachten, der inzwischen das Fernrohr mit dem Fotoapparat, seinem ständigen Begleiter, vertauscht hat. Es ist ein Gesicht wie eine schöne Gebirgslandschaft. Darin haben sich die Berge und Täler, Flüsse und Wege eingraviert, die seit 25 Jahren seine Heimat sind und die er wie seine Hosentasche kennt. Mindestens.

Auf Umwegen zum Ziel
Denn Lozza hat seine Aufgabe nie als Bürojob interpretiert. «Ich wollte immer wissen, von was ich rede, wenn ich mit Medien und Besuchern zu tun hatte. Das bin ich mir selbst, dem Nationalpark und jenen mutigen Männern schuldig, die diesen Park vor über 100 Jahren gegründet haben.» Das sei damals visionär gewesen und wäre heute gar nicht mehr möglich. Zu viele Partikularinteressen, zu viele Bedenkenträger.

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Lozzas eigene Geschichte ist verbunden mit dem Dorf Marmorera GR jenseits des Alpenkamms an der Julierroute. «Ich war das letzte von sieben Kindern. Wir hatten genug zum Leben, aber auch nicht mehr», sagt er und ergänzt. «Aber mehr wollten wir ja auch gar nicht – alles war gut, wie es war.» Das alte Marmorera gibt es heute nicht mehr, die Ruinen liegen am Grunde des gleichnamigen Stausees, den die Elektrizitätswerke Zürich bauen liessen. «Mein Vater war der erste Dammwärter, ich bin auf der Dammkrone aufgewachsen, zwischen See und Wäldern, Bergen und Weiden.»

Wir haben mit dem Nationalpark ein Juwel, frei von Beton und kommerzionellen Hintergedanken.

Hans Lozza
Mediensprecher Nationalpakr

Die Sommermonate verbrachte er im Valsertal, woher seine Mutter stammte. «Es war grandios, ich liebte dieses Leben in der Natur zwischen einfachen, geerdeten Menschen.» Diese Liebe hat ihn nie mehr losgelassen. Aber Liebe muss manchmal Umwege gehen, bis sie Erfüllung findet.

Die erste Station dieses Umwegs war Chur. «Ich ging dort ans Gymnasium, hatte Heimweh und gleichzeitig Hunger nach mehr Bildung», erzählt Lozza. Um über die Runden zu kommen, arbeitete er während der Schulferien auf dem Bau. Weil der Bildungshunger gross und die Schulnoten gut waren, erhielt er ein Stipendium vom Elektrizitätswerk der Stadt Zürich EWZ. «Ich zog nach Zürich, begann mein Studium der Geologie. Meine Eltern verstanden das vielleicht nicht ganz, aber sie haben mich immer unterstützt.»

Unter Beobachtung
In Zürich traf Lozza seine zweite grosse Liebe, seine Frau Barbara. «Ich arbeitete als Geologe und wir stellten uns schon auf ein Leben im Unterland ein. Dass ich in meinem Beruf in Graubünden je einen Job erhalten würde, daran glaubten wir nicht.» Bis dann 1995 der Anruf eines Kollegen kam. Der Nationalpark suche aus Anlass des damaligen Jahres der Natur einen Kommunikationsmenschen. Und dann schloss sich der Kreis –und der Mann aus Marmorera war zurück in den Alpen.

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Lozza nimmt den Rucksack, weiter geht’s über Wege, die mit Gold beschichtet sind, dem Nadelgold der Lärchen. Niemand ist zu sehen, doch der Naturliebhaber sagt: «Wir werden von unzähligen Augenpaaren beobachtet. Steinböcke, Gämsen, Raben, Tannenhäher – sie alle wollen ganz genau wissen, was wir tun.»

Vorbei gehts an scheinbar toten Föhren, Lärchen und Arven. Letztere etwa haben gegen 1000 Jahre gelebt und selbst jetzt, im Todeskampf, wollen sie nicht umfallen. Weitere 100 Jahre strecken sie ihre kahlen Äste wie hilfesuchende Arme in den Himmel und wirken wie Gespenster.

Doch beim Näherkommen sieht man die vielen Löcher in den kahlen Stämmen. Hier haben Buntspechte ihre Jungen grossgezogen. Auch der Hirsch, dessen Gerippe im Bachbett liegt, ist nicht umsonst gestorben: «Er war Nahrung für Vögel, Füchse und Kleinlebewesen», sagt Lozza. «Der Kreislauf von Leben und Tod in der Wildnis Nationalpark schliesst sich immer wieder neu.»

Wir werden von unzähligen Augenpaaren beobachtet. Steinböcke, Gämsen, Raben, Tannenhäher – sie alle wollen ganz genau wissen, was wir tun.

Hans Lozza
Mediensprecher Nationalpark

Dankbar – jeden Tag
Angefangen hat Lozza vor einem Vierteljahrhundert als Pädagogischer Mitarbeiter. Heute leitet er als Verantwortlicher für die Kommunikation ein Team von 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, betreut Medien, Journalisten aus aller Welt, schreibt Artikel und bebildert diese mit unglaublich schönen Fotos selber. Aber Journalisten hin, Wissenschaftler her – wichtiger als alles andere ist dem Mediensprecher Folgendes: «Wir haben mit dem Park ein Juwel, frei von Beton und kommerziellen Hintergedanken. Hier kann die Natur einfach Natur sein, hier leben die Tiere ohne Zäune, Autobahnen und Zivilisationsdruck. Hier sind auch Wölfe und Bären willkommen.»

All das – und noch viel mehr – will Lozza den Besuchern nahebringen. «In diesem einzigartigen Naturreservat können die Menschen die natürlichen Zusammenhänge mit all ihren Sinnen erfahren und verstehen. Was gibt es Schöneres, als draussen unterwegs zu sein und die Natur mit all ihren vielfältigen Facetten auf sich wirken zu lassen?»

Er selber tut das immer wieder. Selbst in der Freizeit ist er mit seiner Frau im Park unterwegs und jagt, wie er selber sagt. Das lässt aufhorchen, aber Lozza ergänzt rasch: «Ja, wie meine Vorfahren bin ich Jäger. Aber eben Bilderjäger.» Er lacht auf. Arbeit und Freizeit gehen bei ihm nahtlos ineinander über. «Das geht nur dank meiner Frau, die dafür Verständnis hat und die oft mit mir unterwegs ist. Für sie, für meine Arbeit und überhaupt für mein Leben bin ich dankbar. Jeden Tag von Neuem.»

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Das BuchSeit 25 Jahren durchstreift Hans Lozza privat und beruflich den Nationalpark. Was er dabei erlebt, sieht und fühlt, hat der Bergler in einem wunderschönen Bildband mit kurzen, fein gewobenen Texten festgehalten. Hirsche beim Baden, Wetterstimmungen, Landschaften, die seit 100 Jahren niemand mehr betreten hat, Steinböcke, die Kratzdisteln ernten: Lozza hat sie alle fotografiert und einen sinnlichen «Weg ins Herz der Wildnis» geschaffen.

Hans Lozza: «Faszination Schweizerischer Nationalpark», gebunden, 316 Seiten, Verlag: Werd, ISBN: 978-3-03922-092-2, ca. Fr. 50.–.