Ein Adler zieht seine Kreise über einer malerischen Berglandschaft. Ein kleines, braun gelocktes Mädchen steht barfuss auf einer Bergwiese und verfolgt, den Kopf im Nacken, sehnsüchtig den majestätischen Flug des Raubvogels und breitet die Ärmchen aus. Der Roman «Heidi» von Johanna Spyri feiert ab dem 10. Dezember in der Deutschschweiz die zwölfte Verfilmung seit 1920. 

Wer jetzt die Augen rollt und «schon wieder Heidi» stöhnt, dem sei gesagt: Heidi ist zwar hinlänglich bekannt, und doch diesmal so filigran von Regisseur Alain Gsponer inszeniert, dass man von visuellen und akustischen Streichel­einheiten sprechen kann. Die Musik des hoch dekorierten Filmkomponisten Niki Reiser unterstreicht die alpenglühende Bildsprache und lullt den Zuschauer wohlig ein.

Die grossen Gefühle
«Heidis Lehr- und Wanderjahre» von 1879 und «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat» von 1880 dienten als Grundlage für den Film. Je mehr sie sich mit den Romanen von Spyri beschäftigt hätten, umso mehr hätten sie erkannt, warum diese Geschichte so zeitlos ist, sagen die Macher. Denn sie erzählt archetypisch von Emotionen und Beziehungsmustern, die so alt sind wie die Menschheit: Es geht um Heimat, um Freundschaft, Familie, Liebe, um Eigenständigkeit junger Menschen. Es geht um die ganz grossen Gefühle, um Loyalität und Familienzugehörigkeit. Alle diese Themen funktionieren heutzutage genauso wie vor 140 Jahren, als Johanna Spyri die Heidi-Geschichte schrieb.

nrührende Szenen zum Zücken des Taschentuchs gibt es reichlich in der neuen Verfilmung. Tante Dete bringt Heidi zum Alp-Öhi, der sein Leben in einer abgelegenen Hütte fristet. Zusammen mit seinen Ziegen Schwänli und Bärli hat er sich weitestgehend von der Zivilisation losgesagt. Regelmässigen Kontakt pflegt er lediglich mit Peter, dem kleinen Geissenhirt. Die Rolle der Dete ist sympathischer angelegt, als man es von anderen Verfilmungen gewohnt ist. Oft wurde sie als zickige junge Frau dargestellt, die sich des Kindes selbstsüchtig entledigt. Hier kommt diese Dete als selbstbewusste unabhängige Frau daher, die sich nicht anders zu helfen weiss, weil sie eine gute Stellung in Frankfurt gefunden hat. Als Tante hatte sie selbstlos fünf Jahre lang für das Kind gesorgt, dessen Eltern verstorben waren (siehe Kasten). Doch nun kann sie Heidi nicht mitnehmen. 

Warum ist Heidi ein Waisenkind geworden?
Fast jeder kennt Heidi. Doch kaum jemand weiss, warum das Mädchen keine Eltern mehr hat. In der ursprünglichen Fassung erzählt Dete der Barbel über Heidis Vater Tobias, dem Sohn des Alm-Öhis: «… Also der Tobias war in der Lehre draussen in Mels, und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie es sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid.»
Tante Dete fühlte sich verantwortlich für Heidi und organisierte ihre Betreuung während der Zeit, als sie in Bad Ragaz SG als Dienstmädchen arbeitete. Kurgäste aus Frankfurt warben die fleissige junge Frau ab für ihren Haushalt. Damit begann für Heidi die leidvolle Zeit, in der es sie zunächst zum Grossvater verschlug und später nach Frankfurt.

Kalter Grossvater 

Das Mädchen darum bei seinem eigenbrötlerischen Grossvater zu lassen, wirkt eher wie eine Verzweiflungstat. Dete sucht bald das Weite und Alp-Öhi schlägt Heidi die Tür seiner Hütte vor der Nase zu. Dem Kind bleibt nichts anderes übrig, als im Ziegenstall zu übernachten. Doch Heidi heult nicht Rotz und Wasser. Sie schreit nicht, sie verzweifelt nicht, sie kuschelt sich lediglich an eine Ziege und schläft dort selig ein. Manche Szenen sind allzu beschönigend und wirken fern jeder Realität: So wird etwa die gewöhnungsbedürftige mangelnde Hygiene eines vereinsamten alten Mannes, der in Eiseskälte in einer zugigen Hütte mit Plumpsklo lebt, nicht thematisiert.

Der Grossvater schleppt Heidi zum Pfarrer im Dörfli, um mit ihm das weitere Vorgehen zu besprechen. Der Pfarrer begutachtet die kleine Heidi wie ein Pferd, um ihre Gesundheit zu prüfen und schlägt vor, sie ins Waisenhaus zu geben. Das ist dem Opa dann doch nicht recht und er besinnt sich seiner Verantwortung. Symbolisch fürs Gastrecht von Heidi zimmert er seiner Enkelin einen Stuhl. Es folgen Naturaufnahmen, in denen Heidi und Geissenpeter Panoramen geniessen, von denen Touristen nur träumen können. Auch ein pfeifendes Murmeli fehlt nicht in der Berg­idylle. Friede, Freude, Eierkuchen, wenn nicht Dete wieder auftauchen würde, die Heidi mit nach Frankfurt nehmen will, als «unverdorbenes Schweizer Naturkind» für die gelähmte Klara Sesemann.

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Auch die zwölfte Verfilmung von «Heidi» geht ans Herz.
  Bild: Walter Wehner/Zodiac Pictures

Butler als Sympathieträger
Fräulein Rottenmeier, die Hausdame der Sesemanns, ist darüber gar nicht erfreut. Gewöhnlich wird diese Figur im Roman als schikanierender Hausdrache dargestellt. Im aktuellen Film ist die zart besaitete Angestellte und heimliche Herrscherin über Haus und Hof, die ihren Arbeitgeber anschmachtet, eher ein Opfer der damaligen Etikette und ihrer Katzenallergie. Slapstickartig wirken ihre Niesattacken, als Heidi und Klara Katzenbabys einschleusen. 

Sympathieträger des Films ist, wie in jeder Verfilmung, Butler Sebastian. Im Sesemann-Haushalt, der vor protzigen Gründerzeitmöbeln zu bersten droht, wirkt Sebastian als gute und alles überschauende Seele und nennt Heidi «Mamsellchen». Deeskalierend motiviert die angereiste Grossmutter Sesemann Heidi zum Lesen und schenkt ihr die Wärme, die das Kind so entbehren musste. 

Dennoch spitzt sich die Lage dramatisch zu: Das Zimmermädchen Tinette will sich nachts nur einen Schlaftrunk aus den herrschaftlichen Alkoholbeständen mopsen und meint einen Geist zu sehen. Es ist aber die schlafwandelnde und heimwehkranke Heidi. Herr Sesemann beschliesst deshalb, Heidi wieder in die Höhenluft zum Opa zu schicken. Doch nicht nur Heidi wird in den Alpen spontan von ihrem Kummer geheilt. Auch Klara wirft angesichts der Schweizer Berge wundersam ihre Krücken fort und kann wieder gehen. 

Der neue «Heidi»-Film nach einem Drehbuch von Petra Volpe haut genau in die Kerbe, in der sich seit einigen Jahren Hochglanzmagazine mit romantisierten Landthemen bestens verkaufen. Zum Schluss spreizt das kleine Mädchen, das aussieht, als wäre es aus Marzipan modelliert, wieder die Ärmchen wie der Adler seine Flügel. Was für ein Happy End dieses familientauglichen Weihnachtsfilms, der allen die Seele streichelt.

«Heidi», Familiendrama, 100 Minuten, Studio: Disney, ab sofort im Kino.

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