Das Blatt ist vergilbt, mit schwarzer Tinte steht in Schönschrift oben «Elefantenschildkröte». Als Anschaffungsjahr findet sich die Zahl 1946, ungefähr 1936 sei sie wohl geschlüpft, ist weiter vermerkt. Im Verwaltungsgebäude des Zürcher Zoos legt Direktor Alex Rübel das Blatt aus der Tierkartei zurück in die Mappe der Hängeregistratur, geht mit raschen Schritten durch das Zoogelände, vorbei an krakeelenden Kranichen und keckernden Äffchen, in das Haus der Riesenschildkröten – zu Nigrita. Rübel ist bereits der vierte Direktor, den die Schildkröte erlebt. Sie ist die älteste

Bewohnerin des Zoos. Mit ihren mindestens 80 Jahren ist sie aber keinesfalls eine alte Dame, sondern im besten Alter. Nigrita ist eine Galapagos-Riesenschildkröte, mit wissenschaftlicher Bezeichnung Geochelone elephantopus oder, nach neueren Forschungen, Chelonoidis nigra

Als der grosse, weisshaarige Mann neben Nigrita und ihrem wesentlich grösseren Partner Jumbo kniet, stemmt Jumbo sich auf seinen krummen Beinen in die Höhe, streckt den langen, schlangenartigen Hals und blickt stoisch in die Ferne, als würde er in eine andere Zeit schauen. Sein Kehlsack bewegt sich rhythmisch. «Er mag es, angefasst zu werden», sagt Alex Rübel und krault den 1962 durch eine Expedition des New Yorker Bronx Zoos von den Galapagos-Inseln nach Zürich gebrachten Jumbo am Hals. Galapagos-Riesenschildkröten kennen Menschen sehr wohl und reagieren skeptisch auf Fremde. Rhipsalis Kakteen hängen von Ästen, Bromelien entfalten ihre Trichter im Sonnenlicht, das von oben einfällt, Farne überwuchern die Felswand auf der Hinterseite, dichte, heisse, leicht modrige Luft wabert durch den Raum. So ähnlich ist es auf den Galapagos-Inseln. 

Versteckte Eiablageplätze
Bevor das Riesenschildkrötenhaus in den 1970er-Jahren im Zürcher Zoo gebaut wurde, reiste der damalige Reptilienkurator René Honegger nach Galapagos. Er erkundete den Lebensraum und imitierte ihn in Zürich so perfekt, dass sich Jumbo und Nigrita fortpflanzen. «Zürcher Exemplare leben mittlerweile überall in europäischen Zoos», sagt Rübel. Zürich ist der einzige zoologische Garten Europas, der Galapagos-Riesenschildkröten züchtet.

Diesen Erfolg führt der Direktor und Tierarzt einerseits auf das besonders gut harmonierende Zuchtpaar zurück, andererseits aber auch auf die clevere Konzeption des Hauses. «Der Raum weist, angefangen beim Bassin bis zur Rückwand, unterschiedliche Temperaturzonen auf», erklärt Rübel. Gewisse Bereiche sind mit Wärmeplatten versehen. Auch unter künstliches, ultraviolettes Licht, das mit Wärmestrahlen kombiniert wird, legen sich die Inselbewohner gerne. Das Freigehege wird ihnen erst ab hochsommerlichen Temperaturen zugänglich gemacht.

In Nächten zwischen Oktober und März kommt es vor, dass Nigrita in den hinteren Bereich des Geheges kriecht und dort mit den Hinterbeinen im Sand gräbt. Es gebe bis zu drei Gelege pro Saison, sagt Rübel. Die Riesenschildkröte hebe jeweils eine ungefähr 50 Zentimeter tiefe, birnenförmige Grube aus, um ihre Eier abzulegen. «Zum Glück sind die Eier weichschalig», sagt Rübel, man höre dann, wie die runden, etwas kleiner als einen Tennisball gros­sen Eier in die Grube fielen.

Während der Legezeit überwacht der Zoo das Geschehen im Riesenschildkrötenhaus mit einer Kamera. «Sie decken die Grube so gut zu, dass man sie sonst kaum findet», sagt Rübel. Die Eier würden alle künstlich ausgebrütet. Die Tierpfleger ermittelten Eigewichte zwischen 100 und 160 Gramm. «Die Eier werden in einen Brutapparat auf das keimfreie Substrat Vermiculit gelegt», erklärt Rübel. Sie würden dann bei einer Temperatur zwischen 30 und 31 Grad und einer hohen Luftfeuchtigkeit ausgebrütet. Wichtig sei, dass man die Eier nicht mehr bewege.

Auch in der Natur ruhen Reptilieneier im Sand und werden nicht betreut wie bei den Vögeln, die ihre Eier im Nest regelmässig wenden. Im Zürcher Zoo dauerten die Brutzeiten 85 bis 161 Tage. Bisher sind über 100 junge Schildkröten in Zürich geschlüpft. Einige können in verschiedenen Entwicklungsstadien beobachtet werden. Jüngere Galapagos-Riesenschildkröten haben stark verhornte und geschuppte Beine, bei alten hingegen sind sie von einer feinen, ledrigen Haut überzogen. 

Die Herausforderung bestehe auch in der richtigen Ernährung, betont Alex Rübel. Haltungs- und Ernährungsfehler würden sich fatal auf die spätere Entwicklung auswirken. Das sei vermutlich auch ein Grund, warum sich viele Schildkröten nicht fortpflanzten.  Rübel: «Sie dürfen nur mit sehr magerer Kost ernährt werden, alles geht bei ihnen langsam, und sie haben sehr viel Zeit in ihrem Leben, sich zu entwickeln.» 

Mit Ultraschall Eier retten
Im Zürcher Zoo erhalten die drei erwachsenen Galapagos-Schildkröten und die über 20 Jungtiere grünes Gras und Spelzen. Dabei handelt es sich um Heu ohne proteinreiche Blätter. Pulverisiertes Kalzium sowie ein Vitamin-Mineraliengemisch würden die Nahrung komplettieren. «Auf den Galapagos-Inseln ernähren sie sich fast nur von strohartigem Gras», sagt Rübel und ergänzt: «Wir haben das Wachstum unserer Schildkröten mit demjenigen der Exemplare aus dem San Diego Zoo in den USA und der Charles-Darwin-Forschungsstation auf der Galapagos-Insel Santa Cruz verglichen.» In San Diego seien sie neunmal und in Zürich immer noch dreimal schneller gewachsen als in der Natur. 

Der Zoodirektor besuchte die Galapagos-Inseln erstmals vor drei Jahren. «Es war einmalig, Tieren zu begegnen, die keine Angst vor Menschen haben», sagt er. Er sei aber auch schockiert gewesen, als er die zerstörte Vegetation gesehen habe. Darunter leiden die Galapagos-Riesenschildkröten. Sobald erste Menschen auf dem Archipel Fuss fassten, wilderten sie Schweine und Ziegen aus. «Die Schweine spüren mit ihren Nasen Gelege auf, graben die Eier aus und fressen sie», erklärt Rübel. Ziegen würden die ursprüngliche Pflanzenwelt abfressen, verwilderte Guaven überwucherten alles. Diese fatale Entwicklung werde aber gebremst, auch mithilfe der Freunde der Galapagos-Inseln Schweiz, deren Geschäftsstelle sich im Zürcher Zoo befinde.

Rübel selber ist seit vielen Jahren mit Schildkröten vertraut. «Als junger Tierarzt spezialisierte ich mich auf Schildkröten und Papageien», sagt er. Er forschte schon damals im Auftrag der Universität Zürich im Zoo, zuerst an Griechischen Landschildkröten, dann an den Galapagos-Riesenschildkröten. «Wir konnten schliesslich dank Ultraschall feststellen, wann eine Schildkröte Eier ablegt.» Damit konnte man legewillige Weibchen in Galapagos überwachen. «So wurde es möglich, die Eier vor den Schweinen zu finden und auszugraben.» Sie würden dann künstlich ausgebrütet. «Die Jungen werden ausgesetzt, sobald sie den eingeführten Feinden nicht mehr zum Opfer fallen.»

Nigritas Eier erfahren fern ihrer Heimat besten Schutz. Nigrita und Jumbo stammen von zwei verschiedenen Inseln. Darum seien ihre Jungen Inselhybriden, die nicht zur Auswilderung bestimmt seien, sagt Alex Rübel. Umso wertvoller sind die Zürcher Galapagos-Schildkröten als Botschafter für den fragilen Archipel im Pazifik. Nigrita und Jumbo können noch lange für Nachwuchs sorgen. Verwandte wurden 176 Jahre alt.