Herr Wehrle, die Anzahl der Tiere, die Sie in der Auffangstation im letzten Jahr betreut haben, ist gemäss Ihrer aktuellen Medienmitteilung gegenüber 2018 um über ein Drittel auf 162 gestiegen. Wie erklären Sie sich diese signifikante Zunahme?
Der Anstieg hängt vermutlich damit zusammen, dass wir mittlerweile bekannter sind als früher. Dadurch bringen Privatpersonen und Wildhüter Tiere aus der ganzen Zentral-, Nord- Süd- und Ostschweiz zu uns.

Welchen Effekt haben die Corona-Massnahmen in diesem Zusammenhang gehabt?
Wir spürten den Lockdown insofern, dass die Leute mehr Zeit in der Natur verbracht haben. Dabei haben sie vermehrt Tiere gefunden, die Hilfe brauchen, und diese zu uns gebracht. Das ist mit ein Grund für den Anstieg.

Während Ihre Aufwendungen stiegen, kam der Lockdown. Wie haben Sie die Zeit überstanden?
Nun, wir haben sie überstanden. Doch die finanzielle Ausgangslage ist alles andere als toll. Bei uns beginnt das neue Geschäftsjahr jeweils am 1. April. Diesmal fehlen gleich mehr als zwei Millionen Franken in der Kasse. Der Lockdown hat uns getroffen, zumal gerade der Frühling die wichtigste Zeit für uns ist. Normalerweise kommen da die meisten Besucher in den Tierpark, wo Umsatz erzielt wird. Mit Spenden alleine kommen wir nicht über die Runden. Doch unsere Arbeit muss weitergehen.

 

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Welche Wildtiere haben Sie in letzter Zeit besonders häufig aufgenommen?
Ausgesetzte Sumpfschildkröten, verschiedenste Vogelarten vom Nestling bis zum verletzten Steinadler, verwaiste Igelbabys, Rehkitze und Jungluchse werden nach Absprache mit den jeweiligen kantonalen Jagdverwaltungen zu uns gebracht. Oberstes Ziel ist die spätere Entlassung in die Natur. Um dies zu erreichen, suchen wir jeweils die optimalste Lösung für die Tiere. Dies kann auch die Erlösung vom Leiden sein, wenn ein Tier schwer verletzt ist.

Laut Ihrer Website behandeln Sie unter anderem Steinmarder, Vögel wie Waldkauz oder Waldohreulen, Igel und junge Fledermäuse, die mit der Pinzette gefüttert werden müssen. Das tönt, als wären Sie rund um die Uhr im Einsatz, um diesen grossen Betreuungsaufwand zu leisten.
(lacht) Die Nächte sind manchmal tatsächlich kurz und ich habe zurzeit Sieben-Tage-Wochen. Alleine wäre das aber nicht zu bewältigen. Neben mir arbeiten zwei weitere Tierärzte in Teilzeit für den Park und somit auch für die Auffangstation. Zudem haben wir unsere Tierpfleger und einen Praxisassistenten, welche tatkräftig mithelfen. Ein Praktikant hingegen, auf dessen Unterstützung wir gehofft hatten, ist wegen der Corona-Krise leider nicht zum Einsatz gekommen.

Wie sieht es mit freiwilligen, pensionierten Helfern aus?
Sie einzusetzen, funktioniert in einer Auffangstation wie bei uns leider fast nicht. Abgesehen davon, dass sie als Vertreter der Risikogruppe wegen der Covid-19-Schutzmassnahmen ohnehin nicht zum Einsatz gekommen wären: Eine gewisse Routine sowie Erfahrung in der Pflege von Wildtieren sind bei uns notwendig. Und es reicht auch nicht, nur ein paar Stunden in der Woche mitzuhelfen.

Welches sind die grössten Herausforderungen für Sie und Ihre Mitarbeitenden?
Zu wissen, welches Wildtier welche Pflege und welche Behandlung braucht und wie man mit den verschiedenen Tieren umgeht. Das ist eine Aufgabe für Spezialisten. Eine, die auch mich immer wieder aufs Neue fordert. So habe ich beispielsweise die Unterschiede zwischen den Rehkitzen dokumentiert, über eine lange Zeitspanne hinweg. Jedes ist anders, das macht es so spannend. So muss man etwa herausfinden, welches Tier seine Milch wie am liebsten aufnimmt. Bei den einen Rehkitzen braucht es einen ganz speziellen Nuggi. Andere hingegen wollen keinen Schoppen, sondern trinken bevorzugt aus einer Schale.

Die Nächte sind manchmal tatsächlich kurz, und ich habe zurzeit Sieben-Tage-Wochen

Martin Wehrle
Tierarzt und Mitglied der Geschäftsleitung des Tierparks Goldau/Auffangstation

Ihr Ziel ist es, die Tiere auszuwildern, sobald sie genesen und aufgezogen sind. Wie gehen Sie vor, dass Sie sich nicht an den Menschen gewöhnen?
Einerseits, indem wir keine Besucher in die Auffangstation lassen. Andererseits versuchen wir, auch unseren Kontakt mit den Wildtieren auf ein Minimum zu beschränken. Wir «schöppeln» beispielsweise keine Rehkitze von Hand, sondern haben Ständer aufgebaut, in welche wir den Schoppen hineinstellen können. Damit wird nicht zuletzt verhindert, dass die Tiere das Trinken und Fressen nicht mit Menschen in Verbindung bringen – eine Situation, die sie ja später auch in der Wildnis nicht antreffen.

Sprechen Sie deshalb auch von «Auswildern» und nicht von «Aufpäppeln»?
Genau, letzteres Wort existiert in unserem Wortschatz nicht. Wildtiere sollen Wildtiere bleiben. Die «päppelt» man nicht auf!

Zum Beispiel?
Etwa, wenn uns jemand einen Vogel bringt, der von einer Katze verletzt wurde. Da kann es vorkommen, dass wir die Infektion der Wunde nicht unter Kontrolle bekommen und das Tier stirbt. Das sind traurige Momente. Das gilt auch für diejenigen Fälle, in denen man ein Tier erlösen muss.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft?
Mit der Hoffnung, dass wir finanziell über die Runden kommen. Jeder ist ja froh, wenn er bei uns ein Tier abgeben kann, das er gefunden hat und das Hilfe braucht. Eine riesige Hilfe für uns ist in der jetzigen Situation natürlich, wenn er zugleich einen Beitrag in die Spendenkasse gibt.