Das Video ging um die Welt: Frühling ist es im Jahr 2010, als Babybär Berna auf das noch junge Bäumchen im frisch eröffneten Berner Bärenpark klettert. Bärenmutter Björk passt das überhaupt nicht. Mit der Pranke kommt sie nicht an den Racker heran, also schüttelt sie kräftig am Baum. Raunende Besucherstimmen mischen sich in das knackende Geäst, doch Berna krallt sich nach Leibeskräften fest. 

Björk bleibt nur noch die Holzfällermethode. Mit ihrem ganzen Körpergewicht drückt sie gegen das Bäumchen, das ächzt, sich durchbiegt und letztlich mit einem splitternden Knall nachgibt. Bärchen Berna plumpst unsanft ins noch winterfahle Gras, stiebt erschrocken davon, erholt sich aber rasch und kehrt unter dem Gelächter der Umstehenden zurück zur Bärenmama. 

Bärin Björk schüttelt Baby Berna vom Baum (Video: Franz Gysi):

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Anderthalb Millionen Youtube-Aufrufe hat die kurze Szene in den letzten zehn Jahren gesammelt – und sie bildet auch so etwas wie der Aufbruch in ein neues Bären-Zeitalter in Bern. Denn die Geschichte der Pelzträger in der Bundesstadt ist eine lange und bewegte. Und sie beginnt – wie so vieles – mit einer Legende. 1191, also genau 100 Jahre vor dem Rütlischwur, gründete der Zähringer-Herzog Berchthold der Fünfte in einer Aareschlaufe die Stadt, die fortan das Zentrum seiner Herrschaft bilden sollte. Wie es die Sage will, schickte er einen Trupp Jäger los, mit der Aufgabe, ihm ein Tier zu erlegen, nach dem er die Stadt benennen wollte.

Bärenklau und die Franzosenrache
Dass die Stadt heute Bern heisst und nicht Dachsen oder Eichhorn läge also an den tapferen Jägern, die einen ausgewachsenen Bären erlegt haben sollen. An der Wahrheit der Geschichte darf gezweifelt werden; ja ziemlich sicher hat Bern nicht einmal seinen Namen vom Bären – wahrscheinlicher ist laut dem «Lexikon der schweizerischen Gemeindenamen», dass der Name vom keltischen Wort «Berna» für «Kluft» stammt. Den Bernern von heute ist’s egal. Die Rolle, die der Bär in der Stadt seit Jahrhunderten spielt, ist unzweifelhaft und riesig.

Ein Siegel aus dem Jahr 1224 ist der erste überlieferte Nachweis des Berner Bären als Wappentier der Stadt. Den ersten lebenden Bären brachten eidgenössische Söldner 1513 von einer siegreichen Schlacht gegen das französische Heer mit nach Hause. Weshalb die Französen einen Bären mit in den Krieg führten, bleibt ihr Geheimnis, die Schmach der Niederlage sollten sie hingegen lange nicht vergessen – 1798 rächten sich Napoleons Truppen und entführten nach der Eroberung Berns drei Bären nach Paris.

Zurück ins 16. Jahrhundert: Der französische Beutebär kam erst in einem Zwinger unter, erst 1550 wurde für das Wappentier – es handelte sich kaum noch um denselben Bären – der erste Bärengraben gebaut. Nicht dort, wo er jetzt steht, sondern auf dem passend benannten Bärenplatz, auf dem Besucher heute freie Sicht auf das Bundeshaus haben, wenn nicht gerade Gemüsemarkt ist. Mehrfach musste der Graben neuen Häusern weichen und wurde woanders wieder aufgebaut, bis er schliesslich 1856 dort zu stehen kam, wo er noch heute ist.

Das Wappentier wurde bald viel mehr als ein stolzes Symbol der Stadtoberen. Es entwickelte sich zum lukrativen Geschäft, ja zum Touristenmagnet. Bis zu 27 Bären wurden gleichzeitig gehalten. Klar, konnte man die nicht alle aufeinander loslassen, also sperrte man sie in kleine Innenställe ein und liess sie in Gruppen, während ein paar Stunden pro Tag, an die frische Luft des Bärengrabens. 

An das Tierwohl dachte lange niemand. Die Jungtiere wurden vom Bärenwärter früh von der Mutter getrennt und von Hand aufgezogen. Nur so war es möglich, jedes Jahr pünktlich zu Ostersonntag für das Highlight der Berner Kinder zu sorgen: Dann nämlich wurden die Bärchen jeweils zum ersten Mal rausgelassen. 

Gemetzgete Jungbären zum Znacht
Die Berner Bären wurden gehalten wie Nutztiere. Inklusive Schlachtung und Verwertung. Das Bärenessen im Restaurant Adler blieb bis 1984 Tradition. Doch allmählich regte sich Widerstand. «Der Bärengraben war ein Symbol der Macht des Menschen über das starke Wildtier Bär», resümierte Bernd Schildger, Direktor des Berner Tierparks Dählhölzli 2013 in einer Schrift zum 500-Jahr-Jubiläum des Bären in Bern. «Nun aber wurde der Bär ein Mitgeschöpf und seine Haltung hatte sich am Wohlbefinden und der Würde des Tieres zu orientieren.»

Der Bärengraben war nicht mehr zeitgemäss. Das zeigte auch der Fakt, dass fast alle Bärengraben-Bären aufgrund von Arthrosen eingeschläfert werden mussten; der harte Steinboden ging den Tieren in die Knochen. Und eine neue, strengere Tierschutzverordnung sorgt heute auch auf juristischer Seite dafür, dass der Bärengraben zwar noch immer ein Symbol der Bundesstadt ist – aber ein unbewohntes.

Dass es in der Berner Altstadt auch heute noch Bären zu bestaunen gibt, ist dem Bärenpark zu verdanken, dieser bewaldeten Wiese, die vom Bärengraben bis hinunter ans Aarebord abfällt. Es ist auch einer beachtlichen Hartnäckigkeit zu verdanken, mit der man in Bern auf das – fast schon als Bürgerpflicht proklamierte – Recht pocht, das Wappentier mitten in der Stadt auszustellen.

Schliesslich habe der Berner an sich eine Gemütsnähe zum Bären, sagte etwa Stadtpräsident Alec von Graffenried im Rahmen des 10-Jahr-Jubiläums des Bärenparks. Und er ergänzte gar: «Wir sind schon wegen dem Bären so geworden, wie wir sind.» Natürlich sprechen auch wirtschaftliche Gründe für die Berner Bären. Der Bärenpark ist heute eine der Top-10-Touristenattraktionen der Schweiz. 1,8 Millionen Besucher verzeichnete man 2018. 2010, als die Bärenkinder Urs und Berna ihren Unfug trieben, waren es gar 2,4 Millionen.

Expansion ins Gantrischgebiet
Bären ziehen also. Und Jungbären erst recht. So erstaunt es auch nicht, leuchten die Augen der Berner Tourismusvertreter beim Gedanken, wieder Nachwuchs anbieten zu können. Oder, wie es der Berner Umweltdirektor Reto Nause formuliert: «Wir sollten den Bären alle Facetten des Lebens ermöglichen. Und Kinderkriegen ist eine Facette.»

Also nutzten Nause, von Graffenried und Tierparkdirektor Schildger die Gelegenheit des 10-Jahr-Jubiläums, ihre Pläne vorzustellen. Bern will wieder Bären züchten («Tierwelt Online» berichtete). Und zwar reinrassige Berner Bären, echte Wappentiere eben, die von Geburt bis zum Tod auf Kantonsberner Boden leben. Dafür, rechnet Schildger vor, brauche es nicht drei Gehege wie bisher – der Bärenpark sowie die beiden Bärengehege im Tierpark –, sondern deren sieben. So könne sichergestellt werden, dass immer genügend Platz für pubertierende Jungbären bleibt, die ihre Familie verlassen müssen. Nicht, dass sich die Zeiten der «Bärenmetzgete» wiederholen müssen.

Gehege Nummer vier soll an den existierenden Bärenpark angrenzen. Für Nummer fünf bis sieben hat man sich im Naturpark Gantrisch umgeschaut. Die Gemeinden Riggisberg und Schwarzenburg sind die aussichtsreichsten Kandidaten für ein grossräumiges Bärenrefugium. Der Gemeinderat von Schwarzenburg hat sich bereits einverstanden erklärt. Ob und wann das Projekt umgesetzt wird, liegt nicht zuletzt in den Händen der Bevölkerung, die nun zeigen muss, wie wichtig ihr das Wappentier ist.