Es ist heute, am 1. Juli 2051, lange her, dass ich das letzte Mal einen Hund in Begleitung eines Menschen gesehen habe. Mittlerweile waren wir ja alle gewöhnt, dass Hunde anmutige und sterile Wesen mit fliessenden Bewegungen und eigenem Gemüt sind und uns ausschliesslich aus den planen Flächen der TVs entgegenstrahlen. Innerhalb der bald dreissig Jahren seit Annahme der Primateninitiative in Basel waren nicht nur dieselben, sondern auch fast alle Haustiere in unserer Gesellschaft verschwunden. Die Diskussionen um Grundrechte für Primaten, von den Initianten vermeintlich nur zur Anwendung auf eine kleine Gruppe von institutionellen Primatenhaltern gedacht, entwickelte eine eigene, unberechenbare Dynamik. Wer wollte gegen Gutes für Primaten sein, wie die NZZ vom 2. Juli 2021 fragte?

Schon die Anwendung simpler Grundrechte, wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, stürzte die Zoowelt in unlösbare Dilemmata. Durften sie die Löwen noch mit geschlachteten Tieren füttern oder einen in der Gruppe nicht mehr tolerierten Pavian einschläfern um ihn vor jahrelangen psychischen Leiden infolge Einsamkeit zu bewahren? Jeder einzelne dieser „Fälle“ entwickelte sich zu einem gesellschaftlichen Disput mit der Einsetzung von Fachgremien und vermeintlich Vertretungsberechtigten, die sich stets sicher waren, die Interessen der Tiere genauestens zu kennen. Die Idee der Zoologischen Gärten, durch persönliche Erlebnisse mit der eigenen Sinneswahrnehmung ein Bewusstsein, im Sinne des Philosophen Peter Bieri, für die Bedürfnisse der Wildtiere, welche sich aus ihrer Biologie ergeben und ihrem Anspruch auf Lebensraum, zu schaffen, hatte es schwer in der öffentlichen Diskussion. Infolge einer zunehmenden Lähmung der Handlungsmöglichkeiten schlossen die Zoos der Schweiz nach und nach ihre Tore. Die angenommene Tierquälerei hatte ihr Ende gefunden.

Getreu dem Utilitaristen Peter Singer, dass die Glücksmenge eben auch der Tiere zu maximieren sei, richtete sich der Unmut über die Haltung von Tieren, parallel zum Sterben der Zoos, auf die noch lebendige Nutztierhaltung in der Landwirtschaft. Und so, wie es Jil Schuller in ihrem Artikel in der Bauerzeitung bereits 2021 prophezeite, verschwand die Rinder-, Schweine, und Hühnerhaltung in den einsamen Bergtälern der nur für wenige bezahlbaren Spezialprodukte der Ernährung. Die Umstellung auf überwiegend pflanzliche Nahrung machte die Existenz der Nutztiere obsolet. Sie wurden mit Nichtexistenz belegt. Und eigentlich wurden damit die Grundideen von Peter Singer mit der Glückmaximierung absurd. Wo keine Existenz, kann eben auch kein Glücksgefühl existieren.

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Schlagartig wurde mir bewusst, dass meine Gedanken abschweiften. Doch der strenge Geruch, der von dem Hund in der Strassenbahn ausging, und der die Passagiere dazu brachte, sich abzuwenden, ein Taschentuch vor die Nase zu halten oder gleich auszusteigen, wurde maximiert. Krampfartig umklammerte meine Tochter meinen Arm und krallte ihre Fingernägel durch den Hemdstoff unerbittlich in meinen Oberarm als der Hund, das Hinterteil absenkend, daran machte, sich zu erleichtern. Die Duftexplosion des Kothaufens sorgte dafür, dass an der nächsten Station ein Grossteil der Gäste die Strassenbahn verliessen, natürlich unter Ausstossen diverser Flüche über die erlebte Unverschämheit. Als der Mann sich daran machte, mit grinsendem Blick auf meine Tochter, mit einer umgestülpten Papiertasche den Haufen manuell aufzunehmen, riss Lou an meinem Arm und bedeutete mir unmissverständlich, dass wir die Strassenbahn zu verlassen haben. 

Während wir die Züricher Bahnhofstrasse entlangschlenderten und die Auslagen der neuesten Reisetaschen betrachteten, liess mich der Gedanke nicht los, dass unsere Gesellschaft etwas verloren habe. Die Reaktionen auf den Hund, ach ich vergass zu erwähnen, dass nach den Zootieren und den Nutztieren natürlich auch die Haustiere aus der Gesellschaft verbannt wurden, gemahnten mich festzustellen, dass der scheinbar ehrenwerte Verzicht auf die Haltung von Tieren in Menschenobhut seinen Preis hat: wir verlieren offensichtlich das Bewusstsein für die Existenz und das Leben unserer Mitgeschöpfe und erheben uns damit eigentlich über alles Andere. Genauso wie es der italienische Philosoph Damiano Cantone als Ausdruck der höchsten Macht des Menschen beschrieb. Armselig.

Literatur:

Clalüna F, Wanner A, Bachmann Y (2.7.2021): Basler fordern Grundrechte für Primaten: Sollen wir Patric wie einen Menschen behandeln? NZZ.

Schuller J (5.7.2021): Wie könnte sich die Einführung von Grundrechten für Primaten auf die Landwirtschaft auswirken? Bauernzeitung.

Schildger B (2019): Mensch, Tier. Wird und Weber Verlag