Der Mischlingsrüde Shushu weicht im Dunkeln vor jeder Mülltonne zurück und wird beim Anblick von Besen und Regenschirmen regelrecht aggressiv. Shushu gebe ihr Rätsel auf, sagt Halterin Tatjana S. * aus dem Zürcher Unterland. «Ich habe ihn von klein auf, ihm ist nie etwas zugestossen.» Oft denke sie, der Rüde solle sich nicht so anstellen. Dann wiederum tut er ihr leid. Ist Shushu etwa eine Mimose?

Mimose ist ein negativ behaftetes Wort. Dabei stammt es von einer in Violett- oder Gelbtönen strahlenden Blume. Allerdings einer sehr empfindsamen und zarten Pflanze, die ihre Blätter bereits bei sanften Berührungen oder einem plötzlichen Windhauch zusammenklappt und eine halbe Stunde in dieser Schutzstellung verweilt, bevor sie sich wieder öffnet. Daher sind besonders empfindliche, hochsensible Menschen und Tiere nach der Mimose benannt. 

Da muss er durch – oder nicht?
Eine Hochsensibilität macht sich in vielen Situationen bemerkbar und wirkt sich oft auf alle Sinne aus. Sei es das Ticken einer Uhr, das als störend empfunden wird, der Geruch von Schwarzpulver zu Silvester oder ein zu heller Blitz. Viele Hunde sind oft auch sehr berührungsempfindlich, wollen von Fremden nicht angefasst werden oder etwa im Café nicht auf dem harten Boden liegen. 

Anzeichen fÜr Hypersensibilität

  • Magen-Darm-Beschwerden bis hin zu Magengeschwüren
  • Müdigkeit, Lustlosigkeit
  • Allergien
  • Neurodermitis 
  • Asthma
  • Wetterfühligkeit 
  • Koliken
  •  Schuppiges, stumpfes Fell 
  • Infekte wie Ohren-, Haut-, Blasen-, Augen- oder Mandelentzündungen

 

Andererseits sind hochsensible Wesen sehr empathisch, nehmen feinste Stimmungen und Schwingungen wahr und lassen sich von ihrem Gegenüber niemals täuschen. «Bei hochsensibel geborenen Menschen und Tieren fehlt im Nervensystem jener Filter, der es ihnen ermöglicht, wichtige von unwichtigen Reizen zu trennen», erklärt Tierarzt Bela F. Wolf in seinem Buch «Ist Ihr Hund hochsensibel?». Anders ausgedrückt: Sie können störende Hintergrundgeräusche oder unangenehme Gerüche nicht einfach ausblenden, sondern werden ständig damit konfrontiert. Ähnlich wie ein permanent übertourig laufender Automotor. Und da all diese Reize erst einmal verarbeitet werden müssen, kann es zu einer erhöhten Ausschüttung von Stresshormonen kommen.

Hochsensibilität ist kein neues Phänomen. Sie wurde bereits vor einem Jahrhundert vom russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow untersucht. Pawlow, bekannt durch seine Entdeckung der klassischen Konditionierung (die ihm den Nobelpreis einbrachte), fand heraus, dass die Feinnervigkeit einen dazu bringe, in bestimmten Situationen anders zu reagieren, als von einem erwartet wird. Und Tiere reagieren eben instinktiv. Sie weichen zurück, verkriechen sich oder werden wütend. Da die Halter solche Reaktionen aber meist nicht nachvollziehen können, weisen sie ihre Hunde zurecht oder zwingen sie gar, sich zu unterwerfen. Nach dem Motto: «Da muss er durch!» Auf Dauer sind die Folgen schwerwiegend und führen zu körperlichen oder psychischen Erkrankungen. Und anders als der Mensch, der sich einer Therapie unterziehen kann, ist der Hund im Regelfall auf sich allein gestellt.

Erinnert an traumatisches Erlebnis 
Wie findet man also heraus, ob der eigene Hund hochsensibel ist? Recherchiert man ein wenig, stösst man auf einige Fragenkataloge, die Aufschluss darüber geben sollen. Auch Wolf hält in seinem Buch einen Test parat und stellt Fragen wie «Ist Ihr Hund schmerzempfindlich?», «Reagiert Ihr Hund an Orten, wo Hektik und Lärm herrscht, sehr gestresst?», «Wird er nervös und sehr gestresst, wenn mehrere Menschen gleichzeitig auf ihn einreden und er sich der Situation nicht entziehen kann?» und «Wurde bei Ihrem Hund eine Allergie auf bestimmte Nahrungsmittel festgestellt?» Kann man mehr als die Hälfte seiner insgesamt 34 Fragen mit Ja beantworten, ist der Hund höchstwahrscheinlich hochsensibel. 

Oft ist diese Veranlagung angeboren, was das Erkennen nicht leicht macht. Etwas einfacher ist es bei einer erworbenen Überempfindlichkeit, entstanden durch ein traumatisches Erlebnis, an das der Hund in bestimmten Situationen bewusst oder unbewusst erinnert wird. Hier kann man daran arbeiten – zumindest wenn die Ursache bekannt ist. Bei Menschen spricht man dann meist von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), eine verzögerte psychische Reaktion auf ein belastendes Ereignis, die einhergeht mit Symptomen wie Reizbarkeit, Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit. 

Fingerspitzengefühl statt Alphawurf
Für Wolf können traumatische Erlebnisse auch bei Hunden zu Depressionen oder zur häufig anzutreffende Leinenaggression führen. Die PTBS liefere die Erklärung für fast alles, was den Hund aggressiv macht, ist sich Wolf sicher. «Doch genau das verstehen viele vermeintliche Hundeschulen und -Trainer nicht.» Ein Umstand, der zum falschen Umgang führe. Als Beispiel nennt er den sogenannten Alphawurf, bei dem der Hund auf den Rücken geworfen und so lange festgehalten wird, bis er sich unterwirft. «Ein Tier grundlos niederzuringen und es in Todesangst zu versetzen, ist nicht nur Tierquälerei, sondern auch ein Vertrauensbruch seitens des Halters», sagt die Tierärztin. Nicht Tritte, Schläge oder Unterwerfung seien die Lösung, sondern das Gegenteil. Schliesslich hat ein traumatisierter Hund schon genug Gewalt hinter sich.

Es ist hilfreich, wenn er im Alltag Zeit hat zu entspannen, keine Stresssituationen durchstehen muss und einen geregelten Tagesablauf hat. Will man ihn allerdings wirklich heilen, braucht man laut Wolf in erster Linie nur unendlich viel Liebe, Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl.

* Nachname der Redaktion bekannt

Literaturtipps
Bela F. Wolf, «Ist Ihr Hund hochsensibel? – Erkennen, verstehen und leben mit hochsensiblen Hunden», Verlag: Books on Demand, ISBN: 978-3-743151888, ca. Fr. 30.–

Immanuel Birmelin, «Macho oder Mimose – So erkennen Sie die Persönlichkeit Ihres Hundes und schaffen eine innige Bindung», Verlag: Gräfe & Unzer, ISBN: 978-3-8338-3467-7, ca. Fr. 23.–