Loli ist ein Hingucker. Wenn meine 12-jährige Katze durchs Quartier streift, bleiben die Leute schon mal stehen. Sie merken schnell, dass ihr etwas fehlt. Dass es das linke Vorderbein ist, erkennen sie aber meist erst auf den zweiten Blick. Dann kriegen sie Mitleid und streicheln das «arme Büsi». Loli spielt mit und geniesst. Dass man mit ihr kein Mitleid haben muss, sieht man dann, wenn sie mit ihrem kräftigen rechten Haken ausholt und auf Nachbars (vierbeinige) Katze einschlägt oder wenn wieder einmal ein halber Vogel vor der Haustüre liegt. 

Das war nicht immer so. Die Zeit unmittelbar nach dem Unfall war hart. Für Loli und für mich. Zehn Jahre ist es her, aber ich erinnere mich noch genau: Loli lag im Wäschekorb. Die linke Vorderpfote war fast vom Beinchen abgetrennt. Eine Blutspur führte vom Katzentörchen durchs Wohnzimmer ins Bad. Noch Tage später lag der eiserne Geruch in der Luft. Der Tierarzt vermutete einen Doppelunfall, erst in die Mähmaschine geraten, dann in ein Auto gerannt. Nach einem wochenlangen Versuch, das Beinchen zu retten, folgte die Hiobsbotschaft: Amputation!

«Kauf dir doch eine neue Katze»
Es gab viele kritische Stimmen: «Du tust der Katze damit keinen Gefallen. Lass sie einschläfern.» Und viele blöde Sprüche: «Kauf dir für das Geld doch eine neue – oder zehn.» Auch bei mir kamen Zweifel auf. «Habe ich richtig entschieden? Ist Loli mit drei Beinen noch glücklich?» Die Antwort darauf liefert sie mir jeden Tag. Sie kann vielleicht nicht mehr so gut gehen, dafür hüpft sie jetzt durchs Leben. 

Meine Katze ist kein Einzelfall. Das Tierspital Zürich zählt jährlich 15 bis 20 Beinamputationen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben inoperablen Knochenbrüchen können auch Tumore, Nervenschäden oder Infektionen zum radikalen Eingriff führen. «Katzen kommen damit generell sehr gut zurecht», sagt Antonio Pozzi, Leiter der Klinik für Kleintierchirurgie am Tierspital Zürich. Nach drei bis fünf Tagen können die meisten wieder nach Hause. Die Fäden werden nach circa zehn Tagen gezogen. Danach dürfen die Katzen auch wieder nach draussen. Aber nicht alle mögen so lange warten. 

Tierarzt Thomas Demarmels musste vor sechs Jahren seinem eigenen Kater das Bein abnehmen. Auch der 13-jährige Chilli geriet damals in eine Mähmaschine und schleppte sich schwer verletzt nach Hause. «Sein linker Ellbogen und der Oberarm waren regelrecht zertrümmert», so der Tierarzt. Nach der Amputation steckte der Kater in einer tiefen Krise. «Er lag nur noch auf dem Sofa, löste weder Kot noch Urin, und wir mussten ihn von Hand füttern.» Doch der Zustand hielt zum Glück nicht lange an. Bereits nach einer Woche fasste Chilli neuen Lebensmut und büxte noch in der Schonphase aus. «Wir haben uns damals grosse Vorwürfe gemacht, weil wir eine Tür offen liessen.» Aber der Tag in Freiheit war genau die richtige Therapie für den Kater. «Er realisierte, dass auch ein Leben auf drei Beinen wertvoll ist.»

Nach seiner Rückkehr war er wieder ganz der Alte. Durch das fehlende Beinchen ist Chilli heute zwar etwas langsamer als andere und auch runterspringen bereitet ihm etwas Mühe. Unten durch muss er deswegen aber nicht – im Gegenteil. «Er ist der Quartierchef. Unter unseren Katzen ist er sowieso der Boss, und auch vor den Hunden kann er sich gut verteidigen.» 

Trotz vieler positiver Beispiele fällt der Entschluss zur Amputationen vielen Tierhaltern schwer. «Oft hindert sie die persönliche Wahrnehmung», sagt Pozzi. So kann die Optik erschrecken oder die Halter fürchten um die Lebensqualität ihrer Katze. Auch die Kosten können ein Hindernis sein. Eine einfache Amputation beläuft sich am Tierspital Zürich auf 800 Franken. Mit Vor- und Nachbehandlungen können die Kosten auf bis zu 2000 Franken steigen. 

Wer sich für eine Amputation entscheidet, bereut es allerdings kaum. Das zeigt eine Untersuchung der Universitäten Zürich und Berlin sowie der Tierklinik Hollabrunn (A). Bei einer Befragung gaben 95 Prozent der Halter von Katzen und Hunden mit Bein­amputationen an, sie würden es wieder tun. 

Im Gitterzaun hängen geblieben
Gedanken über eine Amputation musste sich Familie Ley-Gfrörer nicht machen. Als sie Sivon kennenlernte, fehlte ihm das rechte Vorderbein bereits. Der Spanier kam über eine Tiervermittlung in die Schweiz. Mutter Karin Gfrörer hatte sich damals bewusst für einen Kater entschieden, den sonst keiner wollte. Mit seinen drei Beinen war Sivon schwer vermittelbar. Als kleines Kätzchen blieb er vermutlich mit seiner Pfote in einem Gitterzaun hängen. Als man ihn fand, hatte sich die Wunde bereits entzündet. 

Trotz dem schweren Start ins Leben hat Sivon seine Neugier nie verloren. Ursprünglich als Hauskatze gedacht, wollte er schnell raus. «Wir sind anfangs mit ihm spazieren gegangen», sagt Vater Thomas Ley. Das habe gut geklappt. «Sivon ist wie ein Hund. Er kommt, wenn man ihn ruft.» Generell sei er sehr sozial. «Menschen sind ihm wichtig. Er schaut immer, was wir gerade machen.»

Und Sivon ist stark. Der heute 13-jährige Kater kann sich an einem Arm hochziehen. Auch im Geradeaushüpfen ist er spitze – nur beim Richtungswechsel kippt er manchmal um. Zudem könne er wegen des fehlenden Ärmchens sein Geschäft nicht mehr zudecken. «Er rudert wild mit dem Stummel, aber so klappt es halt nicht.» Mit dieser Einschränkung könne man aber gut leben. 

Eigentlich gibt es nur etwas, womit der dreibeinige Sivon nicht klarkommt: Schnee. Damit wurde der Spanier über all die Jahre einfach nicht warm.