Am 4. Dezember 2023 steht der vierjährige Parson Russel Terrier Velvet teilnahmslos in der Küche. Er ist apathisch. Familie Stucki fährt mit ihm schnellstmöglich in die Tierklinik Thun. Nach einer Erstuntersuchung werden sie am nächsten Tag nach Aarau in das TAZ (Tierärztliches Augenzentrum) verwiesen. Velvets Augendruck auf dem rechten Auge ist viel zu hoch. Die Diagnose: ein primäres Glaukom, eine genetisch bedingte Augenerkrankung. Bei dieser kann das sogenannte Kammerwasser, eine Flüssigkeit in der vorderen und hinteren Augenkammer, nicht richtig aus dem Auge abfliessen – deshalb steigt der Augendruck. Die Familie entscheidet sich dazu, das rechte Auge lasern zu lassen. Anschliessend braucht der Hund dreimal am Tag Augentropfen – davon ist Velvet überhaupt nicht begeistert. Vorerst normalisiert sich der Augendruck. Doch für die Familie folgt ein medizinischer Wettlauf gegen die Zeit.

Am 23. Dezember zeigt Velvet wieder Anzeichen von starken Schmerzen. Das Auge ist von weissem Schleim umrundet und der Druck viel zu hoch. Nach einem kurzen Besuch bei der Tierklinik Thun und erneuten Augentropfen darf Velvet nach Hause. Am Tag darauf folgt eine grössere Abklärung. Nach dieser bleibt er in der Tierklinik Thun und am 25. Dezember bringt ihn die Familie notfalls erneut nach Aarau, wo der Rüde auf den Spezialisten des TAZ wartet. Er hat schwere Schmerzmedikamente intus – von den Tierpflegern wird er als Liebling gelobt.

Am 27. Dezember um 9.15 Uhr erhält die Familie den erschreckenden Anruf: Das Auge sei leider nicht mehr zu retten. Der Familie rennt die Zeit davon. Sie treffen eine Entscheidung aus der Ferne: Das Auge muss raus.

Die erste Begegnung

Wenn ein Auge an einem Glaukom erkrankt, ist es wahrscheinlich, dass auch das zweite Auge betroffen sein wird, meist jedoch erst nach Monaten oder Jahren. In äusserst seltenen Fällen, nämlich etwa einmal pro Hunderttausend, tritt die Krankheit jedoch gleichzeitig am zweiten Auge auf – so wie bei Velvet. Nach der Operation am rechten Auge steigt am folgenden Tag der Druck im linken Auge an. Die Familie entscheidet sich wieder für eine Laserbehandlung.

Velvet bleibt dazu in Aarau. Nach der Behandlung verbessert sich die Situation. Doch nur für kurze Zeit: Der Druck steigt erneut und der sonst so menschenbezogene Parson Russel Terrier beginnt die Tierpfleger anzuknurren und zu schnappen. Die Familie lässt auch das zweite Auge entfernen. Velvet ist blind.

Simon Battaglia, der zuständige Tierarzt für Augenerkrankungen im TAZ, erklärt der Familie das Prozedere. Velvet wird ins Zimmer gebracht. Der Hund hat das Gesicht rund um die Augenlider rasiert und trägt rechts eine grosse Narbe und links ein Pflaster. «Ich wollte es gar nicht wahrhaben. Velvet hat keine Augen mehr», sagt Marlise Stucki heute. Und doch wird Velvet damals gleich vom Ehepaar gekrault. Alina fällt es schwerer: «Ich konnte ihn in diesem Moment nicht ansehen, geschweige denn anfassen.» Schliesslich überwindet auch sie sich und krault den blinden Velvet tränenüberströmt.

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Blind zu Hause

Die ersten zwei Tage wird Velvet rund um die Uhr von der Familie betreut. Er schläft viel und steht unter einer ganzen Reihe von Medikamenten. «Man spürte deutlich seine Unsicherheit und Überforderung», erzählt Urs Stucki. Um die Wohnung sicherer zu machen, polstert Velvets Herrchen jede Ecke und jede noch so scharfe Kante mit Schaumstoff ab. Doch Velvet scheint davon alles andere als begeistert zu sein – mit seinem Halskragen schafft er es, die Sicherheitsvorkehrungen eigenhändig wieder zu entfernen. Urs Stucki sagt im Nachhinein: «Er dachte sich wohl: Seid doch nicht so albern.» Velvet zeigt seiner Familie rasch, wie sie mit seiner neuen Situation umzugehen hat. «Unsere übertriebene Vorsicht hat ihn behindert – nicht seine Blindheit», so Stuckis Resümee. Als schliesslich die Fäden gezogen werden und Velvet auf den Halskragen verzichten kann, entspannt er sich zusehends.

Eineinhalb Jahre später zeigt sich Velvet zutraulich und selbstbewusst: Stolz marschiert er auf Besucher zu. Er schnuppert an der Hand, bellt freundlich und wedelt eifrig mit dem Schwanz. Dann trippelt er über den Holzboden davon. «Man sieht ihm seine Blindheit überhaupt nicht an», sagt Urs Stucki mit einem Lächeln. Der kleine Rüde hüpft auf seinen Lieblingsstuhl und fläzt sich in der Sonne. Sein Fell ist weiss-schwarz und zottelig, die Augenlider sind vom dichten Fell bedeckt – auf den ersten Blick ist kaum zu erkennen, dass dort keine Augen mehr sind.

Auf die Frage, ob sie heute noch dieselben Entscheidungen treffen würden, antwortet die Familie, ohne zu zögern, mit einem klaren Ja. Velvet einzuschläfern, stand für sie nie zur Debatte. «Wir haben uns für ihn entschieden. Er ist ein Familienmitglied, und für uns war immer klar, dass wir alles für ihn tun», sagt Marlise Stucki. «Er ist unser Superheld», ergänzt Urs Stucki mit glänzenden Augen. Alina Stucki widmete dem Familienhelden im Rahmen ihrer Abschlussarbeit sogar ein eigenes Buch, um den Schicksalsschlag zu verarbeiten. Darin beschreibt sie die ganze Geschichte aus seiner «Sicht» und jene Gedanken, die Velvet gehabt haben könnte.

Zu Beginn suchte Marlise Stucki im Internet nach Ratschlägen, wie man einen blinden Hund am besten begleitet. Dort fand sie Tipps wie: Immer die gleiche Gassirunde, kein Umstellen der Wohnung, ja kein Freigang. Heute aber begleitet Velvet die Familie sogar in die Ferien. Bei ihren Recherchen stiess sie auf den Schweizer «Verein für behinderte Hunde». Dort fand sie eine wichtige Anlaufstelle und konnte sich mitanderen austauschen und vernetzen. Für sie waren die Erfahrungen und Geschichten anderer Hundebesitzer eine grosse Hilfe.

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Behandelt mich normal!

Im Haus der Stuckis wartet Velvet vor der Treppe, am unteren Ende wartet Alina. «Komm, Velvet!», ruft sie ihm zu. Der Hund schnuppert vorsichtig an der ersten Stufe und hüpft dann selbstbewusst hinunter, stets mit der Nase voraus. Unten angekommen, fordert Alina ihn auf, sich zu setzen, öffnet die Tür und Velvet spaziert zielstrebig an ihr vorbei Richtung Rasen. Dort wuselt er im Gras, die Nase am Boden. Spaziergänge sind herausfordernd: «Wir müssen sehr aufmerksam sein, schliesslich sind wir in dieser Situation Velvets Augen», erklärt Marlise Stucki. Da das Vertrauen zwischen Velvet und seiner Familie stimme, würden sie auch wieder ohne Leine spazieren gehen, führt sie weiter aus. Damit andere Hundebesitzer auf Velvets Blindheit aufmerksam werden, trägt er ein Halstuch oder ein Bauchband mit Hinweis. Schwierig wird es, wenn andere Hündeler ihre Hunde nicht zurückrufen. «Früher war Velvet ein Draufgänger, heute ist er unsicherer. Wenn er einen Hund nicht riechen kann, bellt er ihn einfach an», erklärt Urs Stucki.

Im Umgang mit Velvet habe sich vieles wieder eingespielt. Marlise Stucki sagt: «Wir geben ihm aber deutlichere Kommandos.» Nur wenn Velvet nicht gefasst sei – beispielsweise, wenn er schläft –, sei besondere Vorsicht geboten. Dann müssten sich die Familienmitglieder ankündigen, sonst erschrecke der Rüde, erklärt Alina Stucki. Nachdem er draussen sein Geschäft verrichtet hat, ruft Alina Stucki ihn zu sich. Velvet folgt ihrer Stimme und hält direkt vor ihren Beinen. Er komme aber auch allein gut zurecht, sagt Urs Stucki und ergänzt: «Manchmal gibt es zwar ein Poltern, dann ist er irgendwo dagegen gelaufen. Einen Moment bleibt es still, doch dann tapst Velvet einfach weiter.» Das sei auch wichtig, betont er, denn obwohl sich Velvet stark auf seine Familie und sein Umfeld verlasse, müsse er selbst wachsam bleiben. Auch in unbekannter Umgebung finde sich der Rüde rasch zurecht. Die grösste Veränderung sei, dass die Familie für Velvet viel mehr zum Fixpunkt geworden sei. Marlise Stucki sagt dazu: «Velvet ist eigentlich immer bei uns.» An manchen Tagen begleite er Urs Stucki zur Arbeit. Dieser arbeitet als agogischer Mitarbeiter in einersozialen Institution – und Velvet wirkt dort inzwischen als Therapiehund mit. Und was sich noch verändert habe: Velvet brauche deutlich mehr Ruhe, sagt Marlise Stucki. Sie betont aber: «Trotzdem sind Hundekurse und Lernspaziergänge möglich, sogar empfehlenswert. Dafür braucht es einfach Geduld und Verständnis eines erfahrenen Tiertrainers.»

Grundsätzlich solle man sich im Umgang mit Velvet auf seine eigenen Instinkte verlassen. «Er will nicht verhätschelt werden», bekräftigt Urs Stucki, denn der Rüde habe sich gut mit seiner Blindheit arrangiert.

Verein für behinderte HundeVor zehn Jahren gründete eine kleine Gruppe engagierter Tierschützer den Verein für behinderte Hunde – mit dem Ziel, betroffenen Tieren eine Stimme und eine Lobby zu geben. Der Verein steht Hunden mit Handicap und deren Familien – wie Velvet und den Stuckis – zur Seite. Er bietet Unterstützung und vermittelt unter anderem Kontakte zu spezialisierten Tierärzten oder Hundeschulen.

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