Kinder lernen den Umgang mit Hunden
Erst fragen, dann streicheln
Geht es nach Nicole Waeber, sollte jedes Kind lernen,wie es einem fremden Hund begegnen soll. Dafür gibtes Hundebiss-Präventions-Aktionen in Schulklassen und Kindergärten. So zum Beispiel im freiburgischen Kerzers.
So ruhig wie heute hat die Rasselbande wohl noch selten ein Klassenzimmer betreten. Gut zwanzig Kindergartenkinder betreten den Mehrzweckraum in Kerzers FR in Einerreihe und suchen sich einen Platz auf einem Holzschemel, am besten neben dem Lieblingsgspänli. Mit grossen Augen sehen sie, was da auf der anderen Zimmerseite auf sie wartet, dem einen oder anderen Kindergärtler quietscht ein versehentliches «Jöö» aus dem Mund ob der felligen Begegnung, die auf ihn wartet.
Kiro, Mila, Leon, Yuma und Amun liegen tiefenentspannt dort, ihren Frauchen und Herrchen zu Füssen. Labrador, Lagotto, Labrador, Golden Retriever, Labrador – in dieser Reihenfolge. Die fünf Mensch-Hund-Duos sollen den Kindern in den nächsten zwei Stunden beibringen, wie man sich fremden Vierbeinern gegenüber verhält. Ohne Angst, aber mit Respekt.
Die Kindergartenklasse hat an diesem Vormittag Besuch von PAMFri, der Stiftung für die Hundebiss-prävention des Kantons Freiburg. Moderatorin der Lektion ist Valerie Waeber, Pädagogin und selber angefressene Hündelerin. Heute hat sie ihren Vierbeiner aber zu Hause gelassen und präsentiert den Kindern Skizzen von einem Hund, der mal ganz entspannt dasteht und mal ängstlich den Schwanz zwischen die Beine geklemmt hat. Sie erklärt die Körpersprache des Hundes, zeigt auf, in welchen Positionen Ohren, Beine, Schwanz signalisieren: «Komm mir nicht zu nah!»
Dann geht es um Hundeberufe. «Was macht dieser Hund?», fragt Waeber in die Klasse und streckt ihnen das Bild eines Polizeihundes, eines Blindenhundes, eines Lawinensuchhundes entgegen. Kinderfinger schnellen in die Höhe, Antworten werden gemurmelt. Mal sind es die richtigen, mal hat das Kind, einmal aufgerufen, schon wieder vergessen, was es sagen wollte, mal wollte es einfach nur irgendeine Anekdote loswerden. «Meine Nachbarn haben auch einen Hund», brannte es etwa einem Mädchen auf der Zunge.
Hunde sind nicht immer gut gelaunt
Rasch ist den Buben und Mädchen anzumerken, wie schwer es ihnen fällt, die Konzentration zu behalten. «Die Kinder im ersten Kindergartenjahr sind eigentlich noch etwas zu jung dafür», sagt Nicole Waeber, die Mutter von Moderatorin Valerie. Sie war von Anfang an dabei und half in Diensten des kantonalen Veterinäramtes mit, das Projekt PAMFri zu entwickeln.«Ideal sind Kinder im zweiten Jahr oder Erstklässler. Vorher können sie oft gar noch nicht alle Informationen aufnehmen, die wir ihnen mitgeben wollen.»
Es ist nämlich eine ganze Palette an Informationen, die nach dieser einen Doppellektion bei den Kindern sitzen und hängenbleiben sollte. «Sie sollen wissen, dass ein Hund nicht immer die gleiche Laune hat», fängt Nicole Waeber an. «Sie sollen aber auch die Grundmassnahmen kennen, damit sie nicht gebissen werden: dem Hund nicht in die Augen starren, ihn nicht einengen, ihm nicht das Fressen wegnehmen und ihn nicht beim Schlafen stören.» Ausserdem sollen die Kinder lernen, an einem Hund ruhig vorbeizugehen, ohne zu springen und zu hüpfen. Gar nicht so einfach für Fünfjährige.
Etwas leichter fällt das Stillsitzen, wenn es etwas zu sehen gibt. Deshalb kommen nun die fünf Hunde und ihre Partner zum Einsatz. Golden-Dame Yuma apportiert zum Erstaunen der Kindergärtler ein rohes Ei, ohne es kaputtzumachen. Lagotto Mila lässt sich von ihrer Halterin mit blossen Handzeichen «Sitz», «Platz» und «Fuss» diktieren. Und Labradorrüde Leon erschnüffelt in Sekundenschnelle den Teebeutel unter einem Hundenapf – das Mädchen, das sich auch an der Übung versuchte, entschied sich unter dem Gekicher seiner Gspänli für den falschen Napf.
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Welcher Hund an diesem Tag welche Aufgabe erfüllen muss, haben die Halter erst kurz vor dem Einsatz erfahren. Das ist kein Problem, denn alle können alles. Müssen alles können, denn die spezielle PAMFri-Ausbildung ist happig und nicht für jeden Vierbeiner geeignet, wie Nicole Waeber erklärt. «Die Hunde müssen eine hohe Sozialkompetenz gegenüber Menschen und Artgenossen mitbringen, sie müssen ein gutes Nervenkostüm haben und lernwillig sein.»
Wer mit seinem Hund selber ein Team für Bisspräventions-Einsätze bilden möchte, muss einen Hund haben, der zwischen zwei und sechs Jahre alt ist. Für ältere Tiere lohne sich der grosse Ausbildungsaufwand kaum mehr, sagt Waeber. An einem Eignungsteststellen Experten fest, ob Hund und Halterin die nötigen Grundvoraussetzungen mitbringen. Dort gibt es einen Parcours mit Gerüchen, Geräuschen, Eindrücken, durch den der Halter seinen Vierbeiner leinenlos lotsen muss. «Hier geht es darum, herauszufinden, wie gut das Team zusammen funktioniert.»
In einem weiteren Test muss der Mensch seinem Hund ein «Gstältli» anziehen, «um zu schauen, ob das für ihn schon ein Stress ist», wie Nicole Waeber erläutert. Ausserdem wird geprüft, ob der Hund für kurze Zeit allein warten kann. «Ein unsicherer Hund fängt da schon an zu winseln oder zu scharren.» Stets dabei während der Tests ist ein Verhaltenstierarzt, der überprüft, wie die Hunde mit den Aufgaben umgehen.
Sind alle Herausforderungen gemeistert, darf das Gespann die halbjährige Ausbildung absolvieren. Dort lernen sie das Technische. Eben das Teebeutel-Schnüffeln oder das Eier-Apportieren. «Aber auch die Halter müssen lernen», sagt Waeber. «Wie sie mit den Kindern reden müssen und wie sie ihre Inhalte ruhig und klar transportieren.»
Im grossen Bogen um den Hund
Nach so viel Theorie ist es für die Kinder – und auch für die Hunde – höchste Zeit für etwas Bewegung. Die zweite Kurshälfte findet auf dem Schulhof statt. Die Einsatzteams verteilen sich rund um den Kletterturm und leinen ihre Hunde an Zäune und Bäume. DieKinder bekommen es jetzt hautnah mit den Vierbeinern zu tun. Wobei: besser noch nicht ganz hautnah, Hund und Kind sollen sich erst einmal mit Abstand begegnen. Im grossen Bogen und ruhigen Schrittes sollen die Buben und Mädchen an den Hunden vorbeispazieren.
Im Anschluss dürfen sich die Hunde endlich ihre Streicheleinheiten abholen. Aber erst, nachdem die Kinder Herrchen oder Frauchen gefragt haben: «Darf ich Ihren Hund streicheln?» Da müssen die Kindergärtler auch ab und an mal eine Enttäuschung akzeptieren, wenn es etwa heisst: «Nein, heute lieber nicht. Leon hat Bauchschmerzen.»
Wie man zu reagieren hat, wenn Yuma und Co. mal ganz schlecht gelaunt, übermütig oder gar aggressiv sind, lernen die Kinder zuletzt. Lagotto Mila wird von seiner Halterin in Höchsttempo durch die Kindermeute geschickt. Auf Kommando machen die Kids die «Statue», sie stellen sich bocksteif hin und machen keinen Wank, statt etwa davonzurennen und im Hund den Jagdtrieb zu wecken. Labrador Kiro darf derweil ein paar Kindern das Znünibrot abluchsen. Sein Herrchen lässt ihn ungestüm auf die Kinder zurennen. Deren Aufgabe: Brötchen opfern, Finger retten.
Prävention in der SchuleDie Stiftung PAMFri wurde 2013 gegründet und fusstauf einem kantonalen Gesetzesartikel, der ein ent-sprechendes Angebot vorschreibt. Auslöser war der heute als «Fall Süleyman» bekannte Vorfall, bei dem 2005 ein sechsjähriger Bub im Kanton Zürich von entlaufenen Pitbulls zu Tode gebissen worden war. Der Fall entfachte nicht nur eine Debatte über sogenannte Kampfhunde, er führte in verschiedenen Kantonen auch zur Förderung von Hundebiss-Präventions-Massnahmen an Schulen und Kindergärten. Die Projekte sind stets auf der Suche nach neuen Präventions-Teams. Eine Auswahl:
Aargau: preventabite-aargau.ch
Bern: pab-bern.ch
Bern: kindundhund.ch
Freiburg: pamfri.ch
Schaffhausen: preventabite-schaffhausen.ch
Zürich: codex-hund.ch
Generationenwechsel steht an
Kiro freut sich über die ergaunerte Belohnung. Wirklich zugeschnappt hätte er als ausgebildeter Einsatzhund jedoch niemals. Die Stiftung PAMFri schaut mit regelmässigen Tests, dass das auch so bleibt. Zudem braucht der Hund einmal im Jahr ein tierärztliches Attest, das bestätigt, dass Kiro nach wie vor fit für den Job ist. Rund zehn Jahre lang sind die Hunde durchschnittlich einsatzfähig. Bei insgesamt rund dreissig Gespannen im Kanton Freiburg kommen so jedes Jahr einige Hunde ins «Pensionsalter», für die PAMFri Ersatz braucht. Das gilt jetzt besonders, da die Stiftung gerade zehn Jahre alt wird. Ein Generationenwechsel steht an, es ist also gut, sind derzeit acht neue Hunde in der Ausbildung. Rund die Hälfte der Hunde im Röstigrabenkanton Freiburg gehören übrigens deutschsprachigen Haltern, die andere Hälfte hört auf «assis!» statt «sitz!».
Allmählich ist es mit der Konzentration der Kinder endgültig zu Ende. Die Doppellektion neigt sich dem Ende zu. Die Hunde werden zum Abschied in einer Reihe aufgestellt, die Mädchen und Buben dürfen ihnen ein Tschüss zuwinken. Wie viel von all den Informationen bei ihnen hängenbleiben wird, bleibt abzuwarten. Die PAMFri-Initiantin sagt aber: «Ich begegne auf dem Hundespaziergang immer wieder wildfremden Kindern, die mich fragen, ob sie meinen Hund streicheln dürfen. Genau so, wie sie es hier lernen.»
Obligatorisch sind die Hundebiss-Präventions-Kurse im Kanton Freiburg nicht, zum Unverständnis von Nicole Waeber. Schulen, Gemeinden, ja auch einzelne Lehrpersonen können selber entscheiden, ob sie das Angebot nutzen wollen. «Es wäre schon Zeit, dass es zur Normalität wird, wie der Polizist, der in dieSchule kommt und den Kindern zeigt, wie man über den Fussgängerstreifen geht.» Denn, so findet Waeber: «Wenn wir auch nur einen einzigen Beissunfall verhindern können, hat sich die Sache gelohnt.»
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