Jösses, ist die klein!» Die Besucherin kann es kaum fassen, dass Bärendame Kaja gemächlich nur wenige Meter neben ihr, getrennt durch einen grünen Gitterzaun, den Pfad hinauf trampelt. Das Wildtier reicht der entzückten Frau nur knapp zur Hüfte. Und auch das Gewicht von rund 150 Kilogramm entspricht nicht dem gängigen Bild eines grossen, mächtigen Braunbären. Kaja ist eine spezielle Bärin – nicht nur wegen ihres kleinen Erscheinungsbildes, sondern auch, weil sie den Menschen nicht scheut. Gelassen beobachtet sie die Frau auf der anderen Seite des Zauns, schnüffelt kurz und wendet sich dann dem nächsten Menschen zu.

Wie die Besucherin später erfahren wird, haben sowohl Kajas Grösse als auch ihr Verhalten mit der Vergangenheit der Braunbärin zu tun. Bevor sie in den Schwarzwald kam, lebte Kaja in einem Zirkus. Sie wurde zur Unterhaltung der Menschen dressiert, in der Manege mit Peitschenhieben zum Gehorsam gebracht. Zwischen den Auftritten harrte sie in einem Käfig aus und bekam nur zu essen, wenn sie dafür arbeitete. Grosse Bären sind schwerer zu handhaben, passen nicht auf ein Einrad. Kaja wurde bewusst kleingehalten.

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2011 wurde die Bärin aus dieser unwürdigen Haltung befreit. Die Deutsche Stiftung für Bären hat sich für das Weibchen eingesetzt, es dem Zirkus ab-genommen und in den Schwarzwald gebracht. Heute lebt Kaja zusammen mit ihrer Artgenossin Franca in einem grossen Gehege mit vielen Bäumen zum Klettern, Erde zum Buddeln, einem Fluss zum Plantschen.Franca teilt ein ähnliches Schicksal wie ihre Mitbewohnerin: Sie gehörte einem französischen Schausteller-Paar, welches das Tier in einem dunklen Verschlag mit Betonboden und schimmligem Stroh hielt.

Vom Tierpark zum Tierschutzprojekt

Neben Kaja und Franca leben sechs weitere Bären im Alternativen Wolf- und Bärenpark Schwarzwald, der gut 20 Kilometer von Freudenstadt entfernt ist. Sie alle wurden aus Qualhaltungen befreit. Hinzu kommen fünf Grauwölfe und zwei Luchsdamen, ebenfalls alle ge-rettet. Vor elf Jahren wurde der Park im Bundesland Baden-Württemberg gegründet: Eigens für die Tiere wurde das Waldstück erworben und entsprechend umgebaut. Alle Anlagen sind gezielt auf die Bedürfnisse von Bär, Wolf und Luchs ausgelegt.

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Das Projekt im Schwarzwald ist das zweite der Deutschen Stiftung für Bären. Das erste Reservat betreibt sie in Thüringen, genauer in der Stadt Worbis. 1996 wurde der dortige Zoo vom Gründer der Stiftung, Peter Schmiedel, übernommen. Damit rettete der Fachberater für Tierschutz die dort lebenden 250 Tiere – darunter auch Bärin Maika, die allein auf glattem undrutschigem Terrazzo-Boden lebte, den Kopf ständig gegen die Stahlkanten und Natursteinmauern des Geheges schlagend. Und Maika war nicht das einzige Tier, das im ehemaligen Tierpark unter bedauerlichen Zuständen gehalten wurde. Mit Hilfe eines Trägervereins finanzierte Schmiedel die Übernahme des Tierparks sowie den stetigen Umbau und die Erweiterung der Gehege. Immer mehr Tiere wurden gerettet und nach Worbis gebracht, bis die Stiftung 2009 in denSüden Deutschlands expandierte.

Pelzige Therapeuten

Im Schwarzwald, inmitten von Tannen und Fichten, gehören ganze zehn Hektaren den Tieren. Sie leben aufgeteilt auf drei Gehege, immer mehrere Arten gemeinsam. Kaja und Franca etwa teilen sich ihr Waldstück, die sogenannte «Seniorenresidenz», mit der Eurasischen Luchsdame Ela. Diese liegt gerade auf dem Dach des Unterstands faul in der Sonne.

Im Gehege nebenan, im grössten des Parks, leben die Bärenbrüder Arthos und Arian – ehemalige Strandbären, die angekettet als Fotomotiv für Touristen dienten – zusammen mit dem vierköpfigen Wolfsrudel. Auch wenn es meist friedlich bleibt, halten sich die beiden Tierarten doch gegenseitig auf Trab. Sie müssen nicht nur immer auf der Hut sein und ihr Gelände regelmässig abklappern, sondern gerade beim Futter herrscht so auch natürliche Konkurrenz. Deshalb mache es Sinn, Wolf und Bär gemeinsam zu halten, wie eine der vielen Infotafeln erklärt: Die oft verhaltensauffälligen Tiere werden so beschäftigt. Gewisser-massen therapieren sich Wolf und Bär gegenseitig.

Immer weniger freilebende Braunbären
Im Mittelalter waren Braunbären noch in ganz Europa verbreitet: Sie streiften über die Pässe, jagten in Wäldern, plantschten in Bächen. Heute gibt es nur noch in wenigen Regionen frei lebende Bären – wenn überhaupt kennen wir Europäer Meister Petz aus dem Zoo. Die grössten wilden Populationen finden sich in Rumänien. Das grosse, waldreiche Gebirge der Karpaten bietet ihnen einen guten Lebensraum. Hier leben die allermeisten der rund 17 000 Braunbären Europas. Weitere kleine Bestände gibt es in Schweden, Norwegen, Italien, Spanien, Bulgarien und Griechenland. Weltweit schätzt man die Population auf 200 000 Tiere, womit Braunbären immer noch die am weitesten verbreitete Bärenrasse sind.

Die grösste Bedrohung stellt für die mächtigen Tiere der Verlust ihres Lebensraums, die fehlende Akzeptanz sowie die Wilderei dar. Auf Schwarzmärkten werden grosse Summen für Galle, Fett, Fleisch, Rückenmark und Tatzen der Bären bezahlt. Obwohl die Jagd in den meisten Ländern verboten ist, sterben immer wieder Bären durch Menschenhand.

Wie schwer einige der pelzigen Bewohner mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen haben, sieht man besonders an Agonis. Der sechsjährige Braunbär verlor seine Mutter früh an Wilderer und landete anschliessend in den Händen eines Restaurantbesitzers. Andere Bären kannte Agonis lange nicht, weshalb er sich auch heute noch schwertut mit Artgenossen. Seinen Mitbewohnern Arthos und Arian etwa nähert er sich nur schüchtern. Am auffälligsten ist jedoch Agonis Angewohnheit, in Stresssituationen an der Pfote zu nuckeln. Das sieht für den Laien nicht nur komisch aus, es kann für den Bären auch gesundheitsschädlich sein. Was passiert, wenn die Tiere zu oft und zu lange an einem Körperteil saugen, sieht man bei Arthos: Dessen linkes Ohr hängt schlapp und klein herunter, weil sein Bruder Arian zu oft daran genuckelt hat. Deshalb werden die Besucher ermahnt: Saugt Agonis an seiner Pfote, ignorieren Sie ihn! Das Verhalten soll nicht unnötig gefördert werden.

300 Kilogramm Obst und Gemüse

Den Tieren geht es im Schwarzwald zwar deutlich besser als vorher. Frei von ihrer Vergangenheit sind sie aber auch hier nicht. Die starke Verbundenheit zum Menschen wird ihnen ein Leben lang bleiben. Das wird den Besuchenden deutlich, als es am Nachmittag an die Fütterung geht. Mit grossen Metallschaufelnschleudern die Tierpfleger das Gemüse, das Obst sowie die gelegentlichen Fleischstückchen über den Zaun. Das Fressen sollte möglichst weit verstreut werden, damit die Bewohner gezielt danach suchen müssen. Ebenfalls ein Mittel, sie zu beschäftigen. Deshalb fahren die Pfleger mit ihrem Fahrzeug einmal den gesamten Rundweg ab und halten mehrmals an, um das Futterwerfen zu wiederholen. Die Bären merken schon von Weitem, dass es etwas zu essen gibt: Sie eilen herbei, kaum zeigt sich ein bekannter Pfleger.

Gewissermassen therapieren sich Wolf und Bär gegenseitig.

Gut 300 Kilogramm Obst und Gemüse verputzen die Wildtiere des Parks jeden Tag. Eine stolze Menge, die organisiert und finanziert werden muss. Das Projekt ist gemeinnützig aufgestellt: Der Tierpark im Schwarzwald finanziert sich weitgehend über Spenden und Patenschaften sowie natürlich über die Eintritte und das kleine Gastronomieangebot vor Ort. Hier gibt es Kaffee in Tassen mit Kajas Bild drauf und vegane Hamburger.

Hinter sicheren Gittern

Noch ist der Tierpark lange nicht dort, wo er hin will. So ist der Platz etwa bereits jetzt eng bemessen – zusätzliche Bären könnten kaum noch untergebracht werden. Weiter hat die Erfahrung gezeigt: Gerade Neuankömmlingen würde es gut tun, erst einmal in Ruhe zurück zur Natur zu finden, bevor sie den Augen der Besucherinnen und Besuchern ausgesetzt werden. Deshalb wird derzeit ein neues Gehege gebaut: Im oberen Bereich des Parks entsteht ein sogenanntes Reha-Zentrum für die Tiere. Das Gelände ist bereits abgesteckt, Teile des Zauns errichtet und einzelne Baumaschinen stehen herum. Solche Anbauten seien nur dank der Unterstützung von freiwilligen Helferinnen möglich, schreibt der Bärenpark in seinem hauseigenen Magazin «Bärenspur». Zwar habe man 2021 viel erreichen können, steht dort, «der Grossteil liegt aber noch vor uns». 300 000 Euro seien bisher auf dem Spendenkonto eingegangen – gut ein Drittel des für das Reha-Zentrum nötigen Betrags.

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Wer neben der Baustelle stehen bleibt, sieht eindrücklich, wofür der Alternative Bären- und Wolfspark bekannt ist: die ausgeklügelte Zaun-Konstruktion. Die Tiere und Besucher werden durch ein mehrschichtiges System aus Gitterstäben, elektrifizierten Drähten sowie einem Unterbodenschutz getrennt. Fällt irgendwo ein Ast auf einen Zaun oder wird dieser in irgendeiner Art beschädigt, erhalten die Tierpfleger automatisch eine Benachrichtigung auf ihrem Smartphone. Dieser Aufwand ist wichtig, sind doch Bären nicht nur begabte Kletterer, sondern auch begeisterte Buddler.

Und doch ist es im Schwarzwald nicht das Ziel, die Tiere einzusperren. In Käfigen lebten die Mutzen bereits lange genug. Für sie steht die naturnahe Haltung im Zentrum: Sie leben im Wald. Dort, wo sie hingehören. Stattdessen wird für einmal der Mensch hinter Gitter gesteckt. Der Rundgang führt mitten durch die Gehege – und wird lange Zeit komplett von einem halbkreisförmigen Gitter umgeben. Während es auf der Seite der Tiere grün und verspielt wirkt, bleibt dem Menschen nur der braune Gehweg. Ein kleines Detail, das einem aber deutlich vor Augen führt, worum es hierim Schwarzwald geht: um die Tiere. Und darum, dass diese eine bessere Lebensweise erhalten.

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