Abrupt bleibt Giovanni Bracotto stehen, zeigt auf eine Stelle weiter oben auf der Lichtung. Zwei Gämsen, die am Boden zwischen Gesteinsbrocken nach Essen suchen, wahrscheinlich Mutter und Tochter. Giovanni ist Chef-Ranger im Nationalpark Gran Paradiso. Fast 60 Wildhüter stehen ihm zur Seite und patrouillieren ebenfalls in dem 70 000 Hektaren grossen Parkgebiet, das fünf Täler umfasst. Giovannis Aufgabe ist es, über das ganze Paradies zu wachen, Wilderer zu verjagen oder zu verhaften, verirrte Wanderer auf rechte Pfade zu bringen oder sie zurechtzuweisen, wenn sie das Paradies vermüllen – und natürlich nach Steinböcken Ausschau zu halten.

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Das ganze Jahr hindurch ist er draussen unterwegs, im Winter halbtags, im Sommer oft mehrere Tage am Stück. Dabei steht ihm sein treuer vierbeiniger Begleiter zur Seite. Andere Hunde sind zum Schutz der Wildtiere des Nationalparks – auch angeleinte – grundsätzlich verboten. «Ihr habt Glück, die Gämsen so nah beobachten zu können», sagt der Ranger und erklärt weiter, dass es zwar relativ viele von ihnen im Grand Paradiso gibt, sie jedoch so scheu seien, dass man sie meist nur aus weiter Ferne erblicken kann. Steinböcke hingegen seien etwas zutraulicher. «Je nach Jahres- und Tageszeit sieht man sie sehr weit unten weiden. Sobald es wärmer wird, ziehen sie sich in die Höhe zurück.» Wir machen uns also auf einen etwas längeren Aufstieg gefasst, da die Sonne unbarmherzig vom Himmel herunterbrennt – was uns bei der atemberaubenden Natur jedoch kaum auffällt.

Bartgeiers Wohlfühloase

In den Wäldern der Täler sind wir von Lärchen, Rottannen, Arven und Weisskiefern um-geben. Weiter oben treffen wir zunächst auf Bergweiden, die, wie Giovanni berichtet, im Frühling von Blumen geradezu übersät sind. Noch sind keine Steinböcke zu sehen. Ab und an schaut jedoch ein dickes Murmeltier aus seinem Bau heraus. «Murmeltiere verbringen beinahe 90 Prozent ihres gesamten Lebens im Untergrund», weiss der Ranger zu berichten. «Den gesamten Winterschlaf, das sind zirka sieben Monate im Jahr, ebenso alle Nächte und dann noch die viel zu warmen Tagesstunden. Mit ihren kräftigen Vorderbeinen legen sie umfangreiche Gangsysteme und Winterbauten an, die teils mehrere Jahrhunderte lang bewohnt werden.» Und nicht nur unterirdisch tobt das Leben, auch in der Luft gibt es einiges zu sehen.

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Zu den im Nationalpark vertretenen Vogelarten zählen Raubvögel wie der Steinadler und zahlreiche kleine Sperlingsarten. Selbst der im Jahr 1912 in diesem Gebiet ausgestorbene Bart-geier ist durch ein internationales Projekt wieder zurückgekehrt. Sogar von Luchssichtungen weiss der Ranger zu berichten und ist stolz darauf, da es sich beim Luchs um eine der am stärksten vom Aussterben bedrohten wild lebenden Katzenart handelt. «Auch der Wolf wanderte vor zirka 25 Jahren wieder aus den Abruzzen und aus Kalabrien ein. Momentan leben etwa 35 Wölfe im Aostatal. Zu sehen bekommt man ihn aber so gut wie nie», beruhigt uns der Ranger, als er den ängstlichen Gesichtsausdruck einer älteren Dame sieht.

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Giovanni kennt sich nicht nur mit den tierischen Bewohnern des Grand Paradiso aus, auch in der weiten Pflanzenwelt zeigt er sich als Experte. Zu den seltenen Blumen des Parks zählen das Pennsylvanische Fingerkraut (Potentilla pensylvanica) und der Fuchsschwanztragant (Astragalus alopecurus), der ausschliesslich im Aostatal wächst. Am meisten hat es ihm jedoch die Paradisea liliastrum, eine schöne weisse Trichterlilie angetan, die zwischen Mitte Juni und Mitte Juli blüht. Sie leiht dem botanischen Alpengarten Paradisia auf 1700 Metern Höhe ihren Namen. In ihm werden über tausend einheimische und aus anderen Bergregionen der Welt stammende Pflanzen ausgestellt, die für normale Touristen und natürlich auch für Forscher von besonderem Interesse sind.

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Majestätische Hornträger

So schön die Pflanzen auch sind – uns zieht es zu den Steinböcken. Also geht es weiter bergauf. Immer wieder greift Giovanni zu seinem Feldstecher und sucht im felsigen Gelände nach den Tieren. Plötzlich huscht ein Lächeln über sein Gesicht und er deutet uns, ihm leise zu folgen. Querfeldein geht es nun im Gänsemarsch den Berg hinauf und plötzlich sehen wir sie vor uns. Eine Gruppe von zirka zwanzig Steinböcken. «Das ist eine mittelgrosse Gruppe von Junggesellen», erklärt uns Giovanni und zückt seine Kamera, da sich nicht einmal zehn Meter vor ihm ein besonders stattliches Exemplar in Pose wirft.

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Während die männlichen Tiere, die an ihren langen, gebogenen Hörnern zu erkennen sind, in kleinen Gruppen leben, bleiben die weiblichen Tiere mit kürzeren Hörnern beim Nachwuchs. Durch intensive Bejagung stand der Alpensteinbock vor zweihundert Jahren kurz vor dem Aussterben – nur noch hundert Tiere waren übrig. Nicht nur das Fleisch des Steinwildes, sondern nahezu alle Teile waren begehrt. Die Hörner sowie Bezoar-Kugeln der Tiere spielten in der traditionellen Volksmedizin eine sehr grosse Rolle. Der Steinbock galt als wandelnde Apotheke.

Das Alter der Steinböcke lässt sich an den ringförmigen Vertiefungen der Hörner ablesen.

Heute gibt es wieder über 13 000 Steinböcke in den Schweizer Alpen – König Vittorio Emanuele II. und dem Nationalpark Gran Paradiso sei Dank. Im Gebiet des heutigen Nationalparks verbot der König dem Volk die Jagd, damit genug Wild für ihn und seine adligen Freunde übrigblieb und so rettete seine Liebe zur Jagd paradoxerweise den Steinbock vor dem Aussterben. 1920 schenkte Vittorio Emanuele III. das Reservat schliesslich dem italienischen Staat, um daraus einen Park zu machen. Heuer erstreckt sich der Nationalpark Gran Paradiso über 70 000 Hektaren Hochgebirgsgebiet zwischen den 800 Metern des Talbodens und den 4061 Metern des Gran Paradiso. Er besitzt vier Be-sucherzentren: eines in Cogne, zwei in Valsavarenche und eines in Rhêmes-Notre-Dame. In diesen können Besucher zu jeder Jahreszeit die verschiedenen naturkundlichen Aspekte des Schutzgebiets erkunden.

 

Unter Kontrolle

Es ist beeindruckend, dass alle heutigen in der Schweiz lebenden Steinböcke zurückgehen auf die Kolonie, die nach der extremen Bejagung im 18. und 19. Jahr-hundert im Aostatal überlebt hat. Insgesamt hat die Art nun wieder 50 000 Exemplare, doch die genetische Vielfalt ist stark geschrumpft: Wie der Vergleich von 60 modernen und 15 historischen DNA-Proben zeigt, sind nur noch zwei von ursprünglich mindestens zwölf mütterlichen Linien übrig. Momentan scheint es den Steinböcken jedoch trotz genetischer Verarmung recht gut zu gehen.

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Doch der Mangel an Variation könnte beim Ausbruch einer Krankheit oder bei Umweltveränderungen durchaus negative Auswirkungen nach sich ziehen. Daher haben Giovanni Bracotto und seine Kollegen stets ein ganz genaues Auge auf ihre gehörnten Lieblinge. «Durch den Klimawandel hatten wir im letzten Jahr viel zu wenig Schnee, das hat fatale Folgen für die Steinböcke.» Denn gibt es weniger Schnee, wächst das Gras früher und dünnt früher aus. Die Mütter haben so weniger zu fressen, dadurch bekommen die Neugeborenen weniger Milch. Darum leben viele Steinböcke nicht lange genug, um später selbst Junge zu zeugen. Seit mehreren Jahren nimmt die Zahl ständig ab. Bleibt zu hoffen, dass die Könige der Alpen wieder einen Retter finden.

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Auf Schusters Rappen
Ein dichtes Netz von Wanderwegen ermöglicht es, das gesamte Schutzgebiet in Tagesausflügen oder in mehrtägigen Etappen zu erkunden. Italiens ältester Nationalpark bietet Routen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden, auch in Etappen, die sich teilweise mit anderen Routen in der Region kreuzen, wie beispielsweise mit dem Höhenweg «Alte Vie». Auf diese Weise lässt sich das Aostatal sogar in der Sommersaison aus verschiedenen Perspektiven entdecken und wird auch den Erwartungen der anspruchsvollsten Wanderer gerecht.