Freudig kommt Jaci angerannt. Fast überschwänglich begrüsst er den Besuch, will gestreichelt werden, reibt seinen Kopf an Menschenbeinen und -händen. Wenn er könnte, würde er wahrscheinlich bellen. Oder schnurren. Aber er kann beides nicht, denn Jaci ist weder Hund noch Büsi, sondern ein Zwergziegenböcklein. Und angerannt kommt er eigentlich auch nicht, sondern viel eher angefahren. Jacis Hinterbeine stecken nämlich in einem Rollwagen.

«Seine Kniegelenke sind steif. Er kann auf den Hinterbeinen nicht stehen und auch nicht laufen», sagt Christine Jordi, Jacis Besitzerin. Sie betreibt mit ihrem Mann den Hof Klosterfiechten am Stadtrand von Basel. Kühe, Milchziegen und Hühner hausen hier ebenso wie die Wellensittiche. Ein wichtiger Bestandteil des Hofs bildet der Reitstall. Regelmässig bekommt der Biobetrieb Besuch von Schulklassen, die hier das landwirtschaftliche Leben kennenlernen. Um den Kindern eine zusätzliche Freude zu machen, hält Jordi seit nicht allzu langer Zeit auch Zwergziegen. Und in diese kleine Herde wurde Jaci am 28. Februar 2021 hineingeboren. Jaci kam zusammen mit einem Zwillingsbruder auf die Welt. Dass mit ihm etwas nicht stimmte, habe sie gleich bemerkt: «Sein Kopf schien riesig, während der hintere Teil des Körpers ganz dünn war.» Kurzerhand nahm Jordi das Gitzi hinein in die warme Küche und gab ihm zu trinken. Es sei ein Glück gewesen, dass sie gerade rausging, um die Pferde zu füttern. «Sonst hätte ich ihn vielleicht nicht rechtzeitig entdeckt und er wäre gestorben.»

Video: Jaci gibt Gas

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Eher Hund als Ziege

So kam es, dass Jaci in der Stube und der Küche der Jordis aufwuchs – zusammen mit der vierjährigen Berner Sennenhündin Rana und den Katzen Sina und Sissi. Von ihnen, allen voran Hündin Rana, mit der er auch aneinandergekuschelt schläft, hat er sich wohl sein Verhalten abgeguckt. «Er fühlt sich wie ein Hund», glaubt auch Jordi und lacht. Dies stellt Jaci gleich selber unter Beweis, indem er Jordi überall hin nachfährt und immer sofort zur Stelle ist, wenn man ihn ruft, um sich eine Streicheleinheit abzuholen. Als Jaci ganz klein war, konnte er noch kurzzeitig stehen. Der Zustand seiner Beinchen verbesserte sich aber nicht, im Gegenteil. Jaci lernte nie richtig laufen. «Aber da hatte ich mein Herz schon an ihn verschenkt», sagt Jordi. Um dem Geisslein trotzdem zu Mobilität zu verhelfen, mietete sie einen Rollwagen für Hunde – auch wenn manch andere Landwirtinnen und Landwirte darüber nur den Kopf schütteln. Ganz unfähig sich fortzubewegen, ist Jaci aber auch ohne Wagen nicht. Er setzt sich einfach auf sein Hinterteil und zieht die Beine nach. An den Hüftgelenken kann er sie sogar ein bisschen bewegen.

Im Gegensatz zu den Hunden, denen er sich zugehörig fühlt, ist Jaci jedoch eines nicht: stubenrein. Ans Geissenbölleli wegputzen hat sich Jordi längst gewöhnt. Trotzdem darf Jaci jeden Tag raus und auf dem Hof herumrollen. Zwar kippe er manchmal um, aber dann mache er sich lautstark bemerkbar und werde sogleich von jemandem wieder aufgestellt. Früher habe sie ihn auch auf die Spaziergänge mit ihrer Hündin mitgenommen. Allerdings war das Vorankommen dann doch nicht ganz so schnell, wie Rana es gerne gehabt hätte. «Das fand ich dem Hund gegenüber nicht fair.»

GehhilfenNeben Rollwagen existieren eine Reihe weiterer Möglichkeiten, Tieren mit Handicap wieder auf die Beine zu helfen. Eine Orthese ist eine Schiene, die ein Körperteil stützt und stabilisiert. Eine Prothese dagegen ersetzt ein Körperteil, das fehlt. Eine solche kann die Form eines Beins, aber auch die eines Rads haben. Solche Apparate werden nicht nur bei Hunden und Katzen eingesetzt, sondern etwa auch bei Ziegen, Schafen, Pferden und Kamelen. Geh- und Hebehilfen für Hunde kommen als «Gstältli» oder Gurte mit Tragegriff daher, die um die Hüfte oder den Schultergürtel gelegt werden. So kann der Mensch dem Hund über ein Hindernis helfen, das er alleine nicht zu überwinden vermag.

Über die Schwelle getragen

Deshalb dreht Jaci nun nur noch auf dem Hof seine Runden. Bevor er dies tun kann, muss Christine Jordi ihn erst die wenigen Stufen zum Eingang der Wohnung hinunter und über die Türschwelle tragen. Der junge Ziegenbock, der kürzlich einen grösseren Rollwagen bekommen hat, wachse wohl noch etwas, aber viel grösser werde er nicht, meint seine Halterin. Einmal draussen abgestellt, folgt er ihr dann brav in den Stall, wo er sich über einen Heuhaufen hermacht. Die Gämsfarbigen Gebirgsziegen, die diesen Stall bewohnen, heben die Köpfe. Jedoch blicken sie neugierig auf den Hofbesuch und die Landwirtin – ihr kleiner Artgenosse in seinem Wägelchen interessiert sie nicht.

Das Desinteresse beruht auf Gegenseitigkeit. Auch Jaci kümmert sich nicht weiter um die Milchziegen. Einen Stall weiter trifft er auf seine Familie, die Zwerggeissen. Auch zu ihnen pflegt er keine besondere Beziehung. «Am Anfang setzte ich ihn öfters zu seiner Mutter und seinem Bruder in den Stall», erzählt Jordi. «Doch die Ziegen reagierten nicht gut auf ihn. Sie drückten ihn an die Wand und akzeptierten ihn nicht.» Deshalb stellte Jordi ihre Versuche der Wiedereingliederung in die Herde schliesslich ein. Heute steht Jaci jederzeit die Möglichkeit offen, bei den Ziegen vorbeizuschauen oder gar zu ihnen zurückzukehren. «Aber das will er gar nicht», sagt Jordi. «Er reagiert zwar neugierig auf andere Tiere. Aber auf die Ziegen nicht speziell anders als auf alle anderen.»Auf seinen Rundfahrten über den Hof interessieren Jaci nämlich andere Dinge bedeutend mehr. So knabbert er gerne an jungen Blättern und Trieben – und wenn man nicht aufpasst auch an Kleidern. Ausserdem kontrolliert er regelmässig, ob bei den Pferdeställen nicht etwa die Tür offen gelassen wurde. Ist dies der Fall, stibitzt er ein Rossleckerli. «Es ist schon erstaunlich, wie gut sich Tiere mit ihrer Situation arrangieren und sich zurechtfinden können», sagt Jordi. Sie ist überzeugt, dass es Jaci trotz seiner Beeinträchtigung an nichts fehlt.

Damit passt auch der Name, den Jordis Tochter für den Zwergziegenbock ausgesucht hat, wunderbar zu ihm. Jaci bedeutet auf Bosnisch «stärker». Und dass Jaci stark ist, daran besteht kein Zweifel. Auch wenn er selbst sich wohl eher für einen starken Hund hält denn für eine starke Ziege.