Eine zaghafte, melancholische Melodie stimmt in das stetige Lied des murmelnden Bachs ein. Ein Rotkehlchen sitzt auf einer Wurzel und flötet sanft. Nebelschwaden schleichen durch das Unterholz, stellenweise liegt Schnee, die Nacht bricht herein.

Konkurrenten werden weggejagt

Rotkehlchen singen auch in der Dämmerung und im Winter, wohl nicht unbedingt, weil sie sich über die Kälte freuen. Viel eher wollen sie damit Konkurrenten signalisieren, dass das Revier besetzt ist. Beide Geschlechter singen, haben eigene Reviere und teilen damit Artgenossen mit, dass sie ja nicht in ihr Territorium eindringen sollen. Im Winter ist die Nahrung knapp, ein Mitesser würde das eigene Überleben gefährden. Versucht es doch mal ein Artgenosse, in die Nähe zu flattern, wird er energisch weggejagt.

Samen, Insekten und Beeren

Die kleinen Vögel sind darauf angewiesen, stetig Futter aufnehmen zu können. Im Winter picken Rotkehlchen nach Sämereien und finden im Falllaub, unter Wurzeln und in Steinritzen mit ihrem spitzen Schnabel auch Insektenlarven. Im Frühling dann bilden Insekten die hauptsächliche Nahrung. Beeren nehmen sie gerne im Herbst, so etwa von Pfaffenhütchen, Hartriegel- und Holunder.

Teilzieher und Standvögel

Es kann sein, dass die Rotkehlchen, die sich jetzt im Unterholz und am Bachlauf tummeln, aus Norddeutschland oder gar Skandinavien stammen. Diejenigen, die wir vom Sommer und Herbst her kennen, fliegen vielleicht im Buchswald beim Pont du Gard, dem römischen Aquädukt im südfranzösischen Département Gard oder sonst irgendwo an den Gestaden des Mittelmeers umher. Manche Rotkehlchen bleiben das ganze Jahr über im Gebiet, sind also Standvögel, andere aber sind sogenannte Teilzieher.  

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Augenweide im Winter

Ein filigraner Vogel, der im kahlen Winter singt und dessen Brust rot leuchtet, fällt auf, vielleicht nicht mehr unbedingt in der heutigen Zeit, wo Kunstlicht dominiert und viele Menschen mit Kopfhörer umherhasten. Aber in früherer Zeit, als der Lauf der Natur das Leben der Menschen bestimmte, da war das Rotkehlchen im Winter etwas Besonderes.

Legenden ranken sich um das Rotkehlchen

Bereits in den Glaubensvorstellungen von germanischen und keltischen Volksstämmen soll das Rotkehlchen eine Rolle gespielt haben als Träger und Überbringer der Sonne. In Christuslegenden ist es schliesslich Helfer Jesu, das Rot auf seiner Brust spielt auf das Blut Christi an, das er am Kreuzestod vergoss. Die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf hat dem Vögelchen gar eine eigene Geschichte gewidmet, die nicht mit Weihnachten, sondern mit Ostern im Zusammenhang steht. Es gibt aber auch eine weihnachtliche Legende, die um das Rotkehlchen kreist. Es hat das Jesuskind vor dem Erfrieren bewahrt, denn als Josef und Maria eingeschlafen waren, hat es dem Feuer im Stall in Bethlehem Luft zugefächelt und sich dabei seine Brust verbrannt.

Im Lande Jesu

Rotkehlchen kommen denn auch im Winter bis heute an der Levante, also im Lande Jesu vor, denn es handelt sich um ein Überwinterungsgebiet des kleinen Schnäpperverwandten.

Fast Nationalvogel in Grossbritannien

Aufgrund einer Umfrage der britischen Zeitung Times in den frühen 1960er Jahren war das Rotkehlchen der beliebteste Vogel Grossbritanniens. Die Regierung wollte allerdings nicht, dass es zum Nationalvogel ernannt wurde. Dass das Rotkehlchen im Vereinten Königreich so populär ist, geht wohl auf eine schottische Volkssage und auf eine Erzählung zurück, wo sich das Rotkehlchen mit dem Zaunkönig vermählt.

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Rotkehlchen stellen Briefe zu

Eine weitere Möglichkeit, warum das Rotkehlchens in Grossbritannien an Weihnachten eine solch grosse Bedeutung hat, ist die Tatsache, dass in England im 19. Jahrhundert Postboten rote Jacken trugen und den Spitznamen Rotkehlchen erhielten. Noch heute sind Postboten dort in roten Jacken unterwegs. Weihnachtspost ist eine Tradition, besonders auch in der Adventszeit, und die Postboten brachten sie. Die Briefkästen der Royal Mail sind übrigens auch heute noch leuchtend rot.

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Hohes Lebensalter

Rotkehlchen sind zutraulich. Wenn sie bei Gartenarbeiten nahe heranfliegen, so erhoffen sie sich aufgescheuchte Insekten, die sie fangen können. Die zerbrechlich wirkenden Vögel gehören zu den häufigsten in der Schweiz. Gemäss der Schweizerischen Vogelwarte Sempach soll es 450 000 bis 650 000 Paare geben. So zerbrechlich sie auch wirken, sie können ein recht hohes Alter erreichen. Dies konnte dank Ringfunden belegt werden. So ist in der Schweiz ein Höchstalter von sieben Jahren und im europäischen Raum ein Höchstalter von 17 Jahren und drei Monaten vermerkt. Wer Rotkehlchen jetzt im Winter eine Freude machen will, füttert ihnen Mehlwürmer, Buffalos oder Pinkymaden. Diese Futterinsekten können im spezialisierten Zoofachhandel tiefgefroren erworben werden. Rotkehlchen picken aber auch von Körnern, Haferflocken oder nehmen Sultaninen.

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