Der Rote spielt heute wieder verrückt, mit dem komme ich nicht klar!» Leise Verzweiflung schwingt in der Stimme des jungen Mannes mit. Zugleich ist ihm die Erleichterung ob der nahenden Hilfe ins Gesicht geschrieben. Beim «Roten» handelt es sich um einen aufmüpfigen jungen Stier. Und der gestresste Herr ist ein Insasse der Strafanstalt Witzwil BE. Er kümmert sich an diesem Morgen auf einem der Aussenhöfe selbstständig um die Mastmunis. Mindestens alle zwei Stunden wird er von einem der 20 landwirtschaftlichen Mitarbeitenden des Grossbetriebs besucht und kontrolliert. Heute ist es Ulrich Röthlisberger, der vorbeischaut und versichert, dass er beim Auslass des Störenfriedes gleich behilflich sein werde. «Mir ist eine gute Zusammenarbeit mit den Strafgefangenen wichtig», erklärt der Leiter des Tierbereichs, «wir alle hier sind gleichwertige Teammitglieder, die am selben Strick ziehen.»

Röthlisberger absolvierte erst eine Lehre zum Mechaniker für Landmaschinen und liess sich danach zum Landwirt ausbilden. Vor 20 Jahren trat er in der Witz seinen ersten Job als Arbeitsmeister im Bereich Kartoffeln an. 2006 wechselte er dann die Zuständigkeit und übernahm die Verantwortung über die Simmentaler-Mutterkuhherde. Für die Kühe aus dem Berner Oberland schlägt sein Herz, deshalb engagierte sich der Landwirt im Vorstand des Rassenclubs Simmental Suisse. Vom landwirtschaftlichen Betrieb Witzwil wurde er in seiner Ausbildung zum Meisterlandwirt unterstützt, und vor vier Jahren durfte er die Gesamtleitung des Arbeitsbereichs Tiere übernehmen. Nun hat Röthlisberger die Verantwortung über rund 400 Kühe und Rinder, 100 Pferde und 600 Schweine. Diese werden mit Hilfe von 40 erwachsenen Männern betreut, die hier im offenen Vollzug ihre Strafe abbüssen.

Beim Eintritt werden die Fähigkeiten der Neuinsassen geprüft und evaluiert, welche Arbeitseinsätze ihren Kenntnissen und Fähigkeiten am besten entsprechen. Neben der Arbeit im Stall oder auf den über 800 Hektaren umfassenden Feldern und Wäldern gibt es auf der Anlage von Witzwil zahlreiche andere Einsatzmöglichkeiten. Etwa in der Küche, dem Hausdienst, der Metzgerei oder der Schreinerei.

Kühe und Pferde, so weit das Auge reicht

Ein weiterer Arbeitsort befindet sich bei den Milchkühen. Diese sind auf einem abgesicherten Areal, das von einem Zaun umgeben ist, untergebracht. Im Laufstall werden einem die für Schweizer Verhältnisse ungewöhnlich grossen Dimensionen bewusst. 85 Red-Holstein-Kühe mampfen hier ihr Futter. Gleich nebenan hüpfen die Kälber in den Iglus des vor wenigen Monaten neu erstellten Kälberstalles umher. Die Gefangenen helfen, die Kühe zu füttern, zu melken oder die Kälber zu tränken. «Bis zu 200 Kälbergeburten haben wir pro Jahr auf dem Betrieb», gibt Röthlisberger stolz Auskunft. Auch eine beachtliche Menge Milch wird hier produziert. Von den insgesamt 750 000 Litern mit dem Label Wiesenmilch werden 600 000 Liter extern verarbeitet, der Rest wird für Eigenbedarf genutzt. So ist es bei allen Produkten, die in Witzwil unter dem IP-Suisse-Label angebaut oder hergestellt werden: Alles, was den Eigenbedarf übersteigt, gelangt auf den Markt. Sei dies Futtergetreide, Gemüse, Obst oder Fleisch. In Witzwil verarbeitete Lebensmittel oder Produkte werden im Hof- oder besser gesagt Gefängnislädeli angeboten.

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Um den nächsten Dienstleistungszweig zu erreichen, setzt sich Röthlisberger ins Auto. Die Distanzen hier sind so gross, dass die Insassen meist mit dem Fahrrad unterwegs sind, diejenigen mit einem Fahrausweis erledigen zudem Arbeiten mit einem der 20 betriebseigenen Traktoren. Im Pferdestall erwartet ihn bereits Jürg Schenk, der Arbeitsmeister Pferdehaltung. In den hiesigen Boxen leben rund 100 Pensionspferde sowie neun Zugpferde, die für Kutschenfahrten, das Holzrücken oder die Arbeit auf dem Feld eingesetzt werden. Die Nacht verbringen sie jeweils im Stall, den Tag über können sie sich in Gruppen auf den grosszügigen Weiden austoben.

Strafgefangene, die bei den Pferden eingesetzt werden, helfen bei Stallarbeiten, der Weidepflege oder der Behandlung kleiner Verletzungen. «Es gibt viel zu lernen bei uns, sei es in fachlicher oder persönlicher Hinsicht», ist sich Schenk sicher. Die Bedingung sei jedoch, dass der Wille vorhanden ist und den Gefangenen Vertrauen entgegengebracht wird. Einer der Männer absolviert aktuell die Grundausbildung zum Pferdepfleger. Dass in Witzwil eine Lehre in Angriff genommen wird, sei jedoch eher selten, da die durchschnittliche Aufenthaltsdauer nur sechs Monate beträgt.

Steckbrief

Tierbestand:
80–90 Milchkühe
60–70 Mutterkühe
75–80 Mastmunis
180–200 abgesetzte Kuhkälber jährlich
600 Schweine (Muttersauen, Ferkel, Mastschweine)
100 Pferde (Fohlenaufzucht und eigene Arbeitspferde)
4 Bienenvölker
200 Legehennen (ab Herbst 2022)

Pflanzenbau:

400
Hektaren Ackerbau (Mais, Sonnenblumen, Raps, Gersten, Weizen, Erbsen, Gemüse etc.)
120 Hektaren Futterbaufläche
100 Hektaren Ökofläche für Raufutteranbau
40 Hektaren Wald (Brennholz, wenig Nutzholz)
5 Hektaren Obstbäume (Äpfel, Birnen, Kirschen, Mirabellen, Zwetschgen etc.)
½ Hektare Reis

Mitarbeitende:

20
landwirtschaftliche Mitarbeiter
40 Insassen für Arbeiten bei Tieren und Kartoffeln
40 Insassen für Arbeiten im Obstbau und in der Waldwirtschaft

Schenk ist sich sicher: Pferde sind ideale Partner für die Arbeit mit Straftätigen. Die Tiere reflektieren das Verhalten der Leute und passen sich ihrem Auftreten an. Besonders gute Dienste leistet die Freibergerstute Conny. Mit ihren 33 Jahren hat sie zahlreichen Witzwiler Arbeitspferden das Leben geschenkt, unermüdlich auf dem Feld geackert und viel Geduld mit ihren oft etwas unbeholfenen Betreuern aufgebracht. Trotz ihres beachtlichen Alters hat die tüchtige Stute aber keinen Eingang ins Museum der JVA Witzwil gefunden, denn die Geschichte der Einrichtung reicht einiges weiter zurück.

Unter dem Joch

Den Beginn der Strafanstalt markiert der 1868 erfolgte Spatenstich der Juragewässerkorrektion, um das Moorgebiet zwischen dem Bieler- und Neuenburgersee zu entsumpfen. Der Spekulant Friedrich Emanuel Witz kaufte damals ein grosses Stück des Landes, um es zu bewirtschaften. Er musste allerdings bald Konkurs anmelden und das nach ihm benannte Gebiet ging Ende des 19. Jahrhunderts an den Kanton Bern über. 1895 schliesslich wurde in Witzwil eine Strafanstalt eingerichtet, mit Otto Kellerhals als erstem Direktor. Er amtete als Verwalter, Aufseher und landwirtschaftlicher Leiter zugleich und brachte Ackerbau und Viehzucht zum Blühen. Mit seiner bekannten Zugochsenzucht erzielte Kellerhals grosse Gewinne, als im Ersten Weltkrieg sämtliche Pferde in die Armee eingezogen wurden. Die Devise des schweizweit grössten landwirtschaftlichen Betriebes lautete damals wie heute: «Strafvollzug in der Natur, für die Natur.»

Offener Vollzug
Die Gefangenen sind nachts in Einzelzellen eingeschlossen. Während des Tages gehen sie einer Arbeit nach; es besteht Arbeitspflicht. Die Arbeitsplätze befinden sich entweder in einer gesicherten, kontrollierten oder überwachten Zone. Die Gefangenen des offenen Vollzuges sind urlaubsberechtigt. Urlaube werden sorgfältig geplant und überwacht. Die Arbeit wird entgolten. Oberste Priorität haben eine realistische Austrittsvorbereitung und die Reintegration ins Leben ausserhalb der Strafanstalt.

Witzwils Geschichte hat allerdings auch weniger gloriose Aspekte. Die Gefangenenanstalt war Schauplatz des unrühmlichen Umgangs mit Fahrenden in der Schweiz. Ab 1913 wurden Roma, Sinti und Jenische verhaftet, sobald sie die Grenze zur Schweiz überschritten. Die Familien riss man auseinander und während Frauen und Kinder in Heime gesperrt wurden, mussten Männer in Witzwil Zwangsarbeit leisten. Sie schufteten in der Landwirtschaft und hoben Entwässerungsgräben aus.

Heute sehen die Arbeitsbedingungen und Inhaftierungsgründe anders aus. Die Tätigkeiten sollen dabei helfen, die Sozialkompetenz und Selbstständigkeit der Insassen zu fördern und sie auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorzubereiten. Zwei Drittel der Haftstrafen werden in Witzwil wegen Drogendelikten verbüsst. Man trifft aber auch auf Mörder, die den letzten Teil ihrer Gefangenschaft auf dem grössten Bauernhof der Schweiz verbringen.

Neue Wege im Sumpf

Auf dem Rückweg zum Munistall wird ersichtlich, dass Witzwil nicht nur arbeitstechnisch, sondern auch auf ökologischer Ebene und im Bereich Tierhaltung innovative Wege geht. Gemeinsam mit dem angrenzenden Naturschutzgebiet Fanel wurde ein Froschschutzprojekt realisiert. Teiche wurden ausgehoben und die Witzwiler Rinder bahnen den Fröschen den Weg zwischen den Gewässern. Auf den Wiesen bilden sich durch ihre Klauenabdrücke Pfützen, die den Amphibien für einen Zwischenhalt dienlich sind.

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Nicht nur Frösche, sondern auch Schweine lieben den sumpfigen Untergrund. In Witzwil dürfen sich rund 600 Muttersauen mit ihren Ferkeln jederzeit darin suhlen. Denn sie alle leben in Freilandhaltung: eine tiergerechte Haltung, wie sie erst in wenigen Zuchten der Schweiz praktiziert wird. Einen respektvollen Umgang mit den Tieren ist Ulrich Röthlisberger wichtig: «Wir richten nicht alles auf den Gewinn aus. Auch schwächere Tiere haben bei uns ihren Platz.»

Gemeinsam mit der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt Agroscope läuft in Witzwil seit2019 ein Pionierprojekt zum Reisanbau. Auch diese Pflanze mag es gerne feucht. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten können nun auf der Parzelle, die eine halbe Hektare misst, jährlich bis zu drei Tonnen Reis geerntet werden.

Mittlerweile ist es Mittagszeit und Röthlisberger kehrt zu den Kühen zurück. Der rote Muni ist da, wo er hingehört. Vom Aussenhof geht es nun mit dem Fahrrad Richtung Hauptgebäude, wo das Essen wartet. Das orange Tor direkt dahinter steht eine Fahrspur weit offen, doch nur die externen Mitarbeitenden und Besucher radeln hinaus. Die Gefangenen bleiben trotz Fluchtmöglichkeiten artig bei den ihnen anvertrauten Kühen, Schweinen und Pferden.

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