Herr Neubert, Sie waren Kurator für Mollusken am Naturhistorischen Museum Bern. Was sind Mollusken und wie umfangreich ist die Sammlung in Bern?

Unter Mollusken verstehen wir Weichtiere wie Schnecken und Muscheln. Die Berner Sammlung ist in der Schweiz vermutlich die grösste. Sie beinhaltet zwischen vier und fünf Millionen Exemplare.

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Reisten Sie wegen der Mollusken nach Sokotra?

Ja, das war das Ziel der Reise. Ich wusste aus der Literatur, dass auf der Insel eine ganze Reihe von Endemiten vorkommen, also Arten, die es nur auf Sokotra gibt. Ich wollte sie genauer studieren und die Verwandtschaftsverhältnisse untersuchen.

Was fasziniert Sie am Archipel von Sokotra?

Die Inseln sind seit 15 Millionen Jahren vom Kontinent getrennt. Sie sind also viel länger isoliert als die Galápagos-Inseln. Darum konnte sich dort eine eigene Lebenswelt etablieren. Von Sokotra wird oft auch als vom Galápagos des Indischen Ozeans gesprochen. Hätte Darwin die Schnecken von Sokotra gekannt, dann wären ihm auch da so manche Ideen gekommen. Bezüglich der Mollusken erwartete mich auf Sokotra eine völlig neue Welt! Bei den Wirbellosen sind es besonders viele Arten, die nur auf Sokotra vorkommen, die Landschnecken beispielsweise sind zu 100 Prozent endemisch, wenn man von zwei eingeschleppten Arten absieht.

Wie sieht es bei den anderen Tierarten aus?

Es gibt viele endemische Reptilienarten und eine Säugetierart, die Sokotra-Spitzmaus. Grössere Säugetiere gibt es nicht auf den Inseln, nur eingeschleppte, wie die Ginsterkatze, Kühe, Schafe, Ziegen und am Ende ist auch der Mensch zugezogen. Vögel sind sehr mobil, darum gibt es keine hohen Endemismusraten. Trotzdem kommen 20 Prozent nur auf Sokotra vor. Dazu gehören der Sokotra-Star, der Sokotra-Nektarvogel, der Sokotra-Sperling, die Sokotra-Zwergohreule und der Sokotra-Gimpel. Ansonsten speist sich der Anteil an Vögeln aus Ostafrika und Südarabien. Dass die Inseln so einmalig sind, ist allerdings auch der Botanik zu verdanken. 80 Prozent aller Pflanzen Sokotras sind Endemiten. Der Drachenbaum ist ein Spezifikum der Insel. Es sind fantastische Gewächse. Ich hatte das Gefühl, in einem tertiären Wald unterwegs zu sein.

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Was war das Beeindruckendste, als Sie zum ersten Mal in Sokotra waren?

Ich war öfters in solchen Regionen unterwegs, insofern war ich vertraut mit der Landschaft. Fasziniert war ich jedoch von der Natur, von den merkwürdigen Strukturen der Pflanzen. In Arabien wächst beispielsweise die Wüstenrose als Strauch. Auf Sokotra aber gedeiht sie als Baum mit flaschenförmigem Körper. Die Art blüht rot und wirkt urwüchsig. Auf der Insel wachsen auch Gurkenbäume, die gelb blühen und kleine Gürkchen produzieren. Es handelt sich um den einzigen Baum aus der Familie der Gurkengewächse. Dann sind da noch die Schmutzgeier.

Was ist mit den Schmutzgeiern?

Auf Sokotra lebt die grösste Kolonie. Die Vögel hängen schon beim Flughafen rum, in der Stadt sitzen sie überall auf den Mauern. Auch draussen im Feld tauchen sie plötzlich auf. Man denkt, man sei richtig weit weg von allem, aber sobald man Halt macht, dauert es keine fünf Minuten, da macht es flapp, flapp, flapp. Schon kommen die Geier. So etwas habe ich noch nie erlebt.

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Wer wohnt auf Sokotra?

Es handelt sich um urarabische Stämme, die wahrscheinlich schon mehrere Tausend Jahre dort leben. Sie sprechen Sokotri, eine eigene Sprache, die dem Arabischen verwandt, aber dennoch ganz anders ist. Auch indische Seefahrer blieben auf Sokotra hängen. In der Neuzeit sind viele afrikanische Sklaven auf die Insel gelangt. So entstand eine Mischung aus diesen drei Bevölkerungsgruppen.

Wie war Ihre Ausbeute an Schneckenhäuschen?

Es ist sehr interessant, wie kleinräumig die Arten verbreitet sind. So fand ich in unterschiedlichen Regionen ganz unterschiedliche Arten. Dieses Phänomen ist aber allgemein von Inseln bekannt.

Sokotra ist ein Archipel mit den drei weiteren, kleineren Inseln Abd al Kuri, Samha und Darsa. Haben Sie diese Inseln auch besucht?

Ja, ich war auf Samha und Abd al Kuri. Beide Inseln sind bewohnt. Wir sind mit Fischerbooten von Sokotra aus übergesetzt und haben campiert. Es gibt nur je ein Dorf. Dort leben einige Ziegenzüchter und Fischer. Besonders Abd al Kuri hat mich sehr beeindruckt, weil die Insel am östlichen Rand des Archipels liegt und man vom höchsten Punkt aus, etwa 700 Meter über dem Meeresspiegel, freie Sicht in Richtung der somalischen Küste hat.

Leben auf den kleinen Nebeninseln andere Schneckenarten als auf der Hauptinsel?

Innerhalb des Archipels gibt es starke Differenzierungen, jede Insel hat endemische Arten von Landschnecken.

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Man stellt sich vor, dass eher trockenes Klima vorherrscht, nicht gerade ideal für Schnecken.

Die Region liegt im Monsungürtel. Es gibt eine sehr ausgeprägte Regenzeit mit heftigen Niederschlägen während drei bis vier Monaten. Die Vegetation ist allerdings trotzdem arid, also an die Wüste angepasst, dies wegen der langen Trockenperioden.

Dann sammelten Sie in der Regenzeit Schnecken?

Nein, ich war in der Trockenzeit dort, denn zum Bestimmen von Arten reichen leere Schneckenhäuschen. Ich fand sie am Boden. Wer Sokotra besucht, dem fallen die vielen Schneckenhäuschen sofort auf.

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Ist die Pflanzen- und Tierwelt Sokotras geschützt?

Die UNO verlangt den Schutz, sonst wird der Naturerbestatus aberkannt. Sie können sich aber vorstellen, dass das Ganze schwierig aufrecht zu erhalten ist. Die Bevölkerung weiss, was sie an dieser Insel hat, und sie schätzt das auch. Aber die Menschen müssen auch von irgend etwas leben. Derzeit gibt es keine Regierung, keine Ministerien. Die Bevölkerung ist in Stammesgesellschaften organisiert. Die Friends of Soquotra unterstützen beispielsweise Lehrer, damit sie ihre Schüler über die spezielle Natur informieren können.

 

Zur PersonDr. Eike Neubert (1957) studierte Zoologie in der deutschten Stadt Darmstadt. Er war am Naturhistorischen Museum Bern als Kurator für Mollusken tätig, ist emeritiert und wohnt im Schwarzwald, nicht weit von Basel. Neubert ist zeitweise noch immer am Museum in Bern beschäftigt, beispielsweise als Experte der Roten Liste gefährdeter Arten der internationalen Umweltorganisation IUCN. Zudem ist er Vorstandsmitglied der Friends of Soqotra, die sich für den Schutz der Natur Sokotras engagieren.
friendsofsoqotra.org
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