Eine kühle Brise pfeift durch das Tal, das still und frisch eingeschneit oberhalb Sils Maria im Oberengadin liegt. Nur leises Glöckchen-Gebimmel, das rhythmische Klackern von Pferdehufen und ab und zu ein kurzes Schnauben durchbrechen die Stille. Eine Pferdekutschenfahrt ins Val Fex hat durchwegs etwas Sinnliches und Nobles.  

Fast fühlt man sich um ein Jahrhundert zurückversetzt, in eine andere Welt. Damals, als betuchte Städter die Engadiner Höhenluft und die mondäne Hotellerie genossen. Als Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller im mystischen Fextal Stille und Inspiration suchten. Hermann Hesse war gerne hier, Friedrich Nietzsche verbrachte Ende des 19. Jahrhunderts sieben Sommer in Sils Maria. Die Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach («Das glückliche Tal» – damit meinte sie allerdings nicht das Fextal) mietete 1935 ein Haus in Sils Baselgia und lebte bis zu ihrem frühen Tod 1942 zeitweise dort. Zahlreiche Prominenz, David Bowie oder Joseph Beuys zum Beispiel, logierte im Hotel Waldhaus, das oberhalb Sils thront. 

An diesem über 100-jährigen Palast führt die Kutschenfahrt als Erstes vorbei, hinauf durch den Wald God Laret. Die Pferde schnauben kurz, die Glöckchen am Pferdehalfter bimmeln leise. Am Ende der Steigung taucht linker Hand eine Eisenskulptur am Wegrand auf. Dort erhalten die Tiere eine kurze Verschnaufpause. Und die Touristen eine erste Geschichts­lektion. Kutscher Gian Clalüna erklärt, dass das Kunstwerk, die «Wind­skulptur», an Anne Frank erinnere.  Sie verbrachte die Sommerferien 1935 / 36 mit ihrer wohlhabenden Pariser Tante Olga Spitzer auf deren Anwesen unweit des Waldhauses. 

Freibergerpferde und Familientradition
Die Fahrt führt nun aus dem Wald hinaus und in das sich weit öffnende Tal hinein. Wir passieren den ersten Weiler, Vaüglia. Wie der Ortsname vermuten lässt, befinden wir uns im romanischen Sprachgebiet. Bis ins 19. Jahrhundert sprachen alle Talbewohner Putèr, eine rätoromanische Mundart. Das Fex, wohl seit dem 12. Jahrhundert als Weide genutzt, erhielt seinen Namen von «Fedes / Feda» für Schaf. Die Bergeller brachten nämlich einst grosse Schafherden ins Tal. Heute stösst der Wanderer – das Fextal ist auch im Sommer ein beliebtes Ausflugs- und Wanderziel – weniger auf Schafe, denn auf Schottische Hochlandrinder und andere Kühe, gelegentlich sogar auf Yaks. 

Der Fortschritt kam nur langsam ins ganzjährig bewohnte Tal. Bis in die 1950er-Jahre gab es kein elektrisches Licht. Nur gerade 85 Einwohner wohnen im Fex. Zwei Hotels, einige Pensionen sowie drei Voll- und zwei Nebenerwerbslandwirte gibt es hier. Seit 1954 steht das gesamte Tal unter strengem Naturschutz, der einen Bauboom verhinderte. Kraftfahrzeugverkehr ist nur den Anrainern gestattet. Ganz wenige Autos sind es aber dennoch nicht, die unterwegs sind; bereits zum zweiten Mal seit der Abfahrt muss der Kutscher auf die Seite ausweichen und anhalten, um ein Auto vorbeizulassen. Er bleibt gleich noch einen Moment stehen, denn talabwärts kommen zwei Pferdekutschen entgegen. 

Bis zu 14 Kutschen sind in der Hochsaison im Fextal unterwegs. Täglich legt ein jedes Pferd 20 bis 25 Kilometer zurück. Eine Kutsche wiegt 580 Kilogramm, hinzu kommt das Gewicht der Passagiere (maximal 6 Leute). Eine beachtliche Leistung, welche die Pferde erbringen. «Ein Ross muss bewegt werden», erklärt Gian Clalüna, einer der beiden Pferdekutschen­unter­nehmer des Val Fex. «Es gibt genug Freizeitpferde, die bloss herumstehen.» Dass die harte Arbeit den Pferden nicht schade, sehe man auch daran, dass die Arbeitspferde im Vergleich zu Sport- und Freizeitpferden am ältesten werden. Bis zu 25-jährig. 

Schieferplatten und Schmuggel
Gian Clalüna kennt sich mit Pferden bestens aus. Seit 35 Jahren arbeitet er als Kutscher und führt damit die Familientradition weiter. «Dr Papa hets scho gmacht.» Clalüna junior besitzt 20 Pferde – alle sind Freiberger. Die Rasse aus dem jurassischen Hochplateau Franches-Montagnes (Freiberge) ist eine der letzten ursprünglichen Schweizer Pferderassen und stellt heute den letzten Vertreter des leichten Kaltblutpferdes in Europa dar. Der Freiberger zeichnet sich durch einen gutmütigen und arbeitswilligen Charakter aus. Die beiden Zugpferde, welche die Passagiere das Val Fex hinaufziehen, lassen sich in der Tat durch nichts aus der Ruhe bringen – weder durch das Schneeräumfahrzeug, noch durch einen Hund, der einem Frisbee hinterherjagt. 

Wir passieren nun die Kleinsiedlung Crasta mit der um 1500 erbauten Bergkapelle – das Wahrzeichen des Fex. Hier verengt sich das Tal etwas, der Arven- und Lärchenwald erstreckt sich bis zur Strasse hinunter. Diese überquert das Flüsschen Fedacla und führt auf der anderen, fast baumlosen, felsigeren Talseite weiter. Kleine Wasserfälle sind zu Eiszapfen gefroren. Wie ausgestorben liegen die Weiler Vals und Muot da, nur auf dem Biohof Curtins herrscht Leben; eine kleine Herde Kühe geniesst draussen vor dem Stall die immer wieder durchbrechenden Sonnenstrahlen, welche das lang gezogene Hochtal in ein mystisches Licht tauchen. 

Im hinteren Talabschnitt wurden bis 1964 Glimmerschieferplatten für Ofenbau und Hausdächer abgebaut, die sogenannten Fexerplatten. Das Tal, das am Fexergletscher endet, war auch Ausgangspunkt für Schmuggel. Die Pässe Fuorcla Fex-Scerscen und dal Tremoggia (beide über 3000 Meter ü. M.) führen nach Italien und waren während der beiden Weltkriege und in den Jahren nach 1945 beliebte Routen für den illegalen Handel. Oft konnten die Schmuggler auf die Unterstützung der Älpler zählen, welche ihnen mit Leintüchern signalisierten, dass die Luft rein und kein Zollbeamter in der Nähe sei. In der Bergkapelle von Crasta zündeten sie auf ihrem Weg ins Hochgebirge eine letzte Kerze an. 

Unsere Pferdekutsche ist nun an der Endstation angelangt, beim Hotel Fex auf 1963 Metern ü. M. Von hier könnte man auf dem Winterwanderweg noch zur Alp Muot Selvas (mit Restaurant) wandern (Dauer rund ¾ Std.). Die Langlaufloipe führt sogar noch ein Stück weiter bis zum Plaun Vadret.  

Doch wir machen uns nun auf den Rückweg – zu Fuss. So wärmen sich unsere kalten Füsse wieder auf, und wir sparen erst noch 70 Franken für die Rückfahrt (Hinfahrt Fr. 90.–), die wir dann unterwegs oder in Sils in einem der Chesas in eine Bündner Gerstensuppe oder Engadiner Nusstorte investieren können.