Keine fünfzig Jahre lang ist die UeBB gefahren. Die Uerikon-Bauma-Bahn, im Volksmund liebevoll «Über-Bein-Bahn» genannt, hat nie rentiert. Dabei war sie Teil eines durchaus ambitionierten Projekts: Nichts Geringeres als die schnellste Verbindung zwischen Bodensee und Gotthardbahn sollte die Bahnlinie durch das Zürcher Oberland darstellen. Und auch ihr Initiator, Adolf Guyer-Zeller, war ein durchaus fähiger Mann. Immerhin sollte er später die Jungfraubahn bauen, und die ist bis heute ein Touristenrenner.

Aber als die UeBB 1901 ihren Betrieb aufnahm, war schnell klar: Das wird nichts. Zu wenige Passagiere, die Geld brachten. Dazu immer wieder Erdrutsche, die für Unterbrüche sorgten. Schon 1947 fuhr die Bahn zum letzten Mal.

Heute lädt der Goldküsten-Express den Wanderer in Uerikon ab, bevor die Bahn in Richtung Rapperswil weitergondelt. Eine Spurensuche soll es werden, nach der Bahnstrecke, die es nicht mehr gibt. Das stellt sich als nicht ganz einfach heraus: Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seither vergangen und von alten Schienen ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Kein Wunder, die Gleise wurden schon ein Jahr nach der Stilllegung abgebrochen.

Die Schweiz als Ausnahmeland

Weit muss der Wanderer dann aber nicht gehen, um den ersten Spuren davon zu begegnen, was einmal war. Dorfauswärts führt ein Kiesweg bergan in Richtung Chatzentobel. Wenn er dann oben abflacht, wird klar: Das ist der Bahndamm. Ein von Efeu und Brombeersträuchern überwuchertes Holztor steht dort, wo früher die Schienen in den heutigen Spazierweg einmündeten.

Etwas breiter als nötig ist der Wanderweg, wenn er ins Wäldchen einbiegt. Und wunderbar eben. Das sind die Vorteile von alten Bahntrassees: Sie geben ausgezeichnete Wander- und Velowege ab. So gute, dass es in vielen Ländern ganze Organisationen gibt, die sich der Pflege solcher Wege verschrieben haben. «Rails to Trails» etwa schaut in den USA zu rund 30 000 Kilometern ehemaliger Bahnstrecken, die zu Fuss- und Radwegen umgewandelt wurden. Auch in Frankreich und Deutschland sind heute je etwa 5000 aufgegebene Bahnkilometer für den Langsamverkehr zugänglich. In der Schweiz sind solche Wege Ausnahmen, weil es hierzulande nie zu flächendeckenden Stilllegungen kam wie etwa in Frankreich. Dort kann man heute von der Schweizer Grenze bis an den Atlantik auf Radwegen fahren, die allesamt auf ehemaligen Bahnstrecken liegen. Die Strecke der UeBB ist mit rund 35 Kilometern eine der längsten stillgelegten Bahnlinien in der Schweiz.

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Der Wald hier ist nur ein paar hundert Meter breit. Ein Informationsschild rühmt: «Das Trassee wird zum Reptilienparadies». Der künstliche Steilhang, aufgepeppt mit Steinhaufen, bietet Eidechsen, Blindschleichen und Schlingnattern Unterschlupf. Dazu profitieren Heuschrecken und Distelfinken von dem kleinen Naturschutzgebiet. Vom Trockengebiet auf der einen Waldseite geht es ins Feuchtgebiet auf der anderen.

Am Ufer des Chatzentobelweihers sitzen zwei Blässhühner. Daneben steht ein Graureiher im Schilf. Und am Waldrand steht ein Stück Gleis mit einem Eisenbahnwagen der UeBB. Zweite Klasse, schön restauriert, mit glänzendpolierten Metallteilen und frischer dunkelgrüner Wagenfarbe. Schade, sind die Fenster verklebt und die Türen zu. So ist ​kein Blick ins Innere möglich und auch nur eine halbe Reise in die Vergangenheit.

Der Bahndamm, der nordwärts führt, ist überwuchert und kaum mehr begehbar, deshalb nimmt der Wanderer den Umweg durch das Gamstenholz. Der Boden im Wald ist tief und schmatzt bei jedem Schritt. Perfektes Mountainbike-Terrain hier in der Radquer-Hochburg im Zürioberland. Das bestätigen auch die Velopneu-Furchen im Matsch. Auf einem Baum palavern ein paar Krähen. Und als der Mäusebussard zum langgezogenen «i-üüüüh» ansetzt, schlägt der Specht prompt den Rhythmus dazu.

Aussicht auf See und Etzel

Die Bäume tragen Anfang März noch keine Blätter, was eine schöne Aussicht über die kahlen Rebberge auf den Zürichsee eröffnet mit den Inseln Ufenau und Lützelau, mit dem Seedamm, der den See zerschneidet und Rapperswil mit Hurden verbindet. Im Hintergrund zeigt sich der Etzel und noch weiter hinten ragen die Innerschweizer und Glarner Berge in die Höhe.

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Der Wanderer indes dreht Sonne und See den Rücken zu und biegt in Richtung Norden ab. Bald passiert er die Stiftung Brunegg mit ihrer schönen Biogärtnerei (Frühlingsausstellung am Samstag, 26. März). Statt auf direktem Weg durch Hombrechtikon zu spazieren, bietet sich ein kleiner Umweg durch das Eichtobel an, ein schattig-idyllisches Waldstückchen, durch das ein Bach seewärts plätschert.

Der Eichtal-Park in der Industriezone wirbt mit Consultingfirmen, Autohändlern und «Hombi’s Shisha-Bar». Überhaupt ist nun immer wieder von «Hombi» zu lesen, die Hombrechtiker mögen den Kosenamen für ihr Dorf. Vorbei an ein paar Neubauten, die nicht viel anderes zu tun haben, als den Blick auf die Berge zu versperren, geht es in Richtung Dorfkern, in dem prominent der «Bahnhöfliplatz» steht. Und das Bahnhöfli selber auch. Das alte, hübsch renovierte Bahnhofsgebäude ist jetzt ein Café. Selbstverständlich heisst es «Hombi». Die Bahnglocke ist noch da, der Güterschuppen und die Bahnhofsuhr auch. Nur von Gleisen ist noch immer nichts zu sehen.

Die RouteUerikon – Wolfhausen – Bubikon: 13,5 Kilometer, rund 270 Höhenmeter, machbar in knapp 3,5 Stunden (ohne Pausen).
Start: Bahnhof Uerikon (Züge zwischen Zürich HB und Rapperswil-Jona im Halbstundentakt).
Ziel: Bahnhof Bubikon (Züge im Viertelstundentakt nach Zürich HB).
Einkehren: Kaffeepause im «Bahnhöfli Hombi», Hombrechtikon, am Wochenende geschlossen. bahnhöfli-hombi.ch
Proviant: aus dem Selbstbedienungsladen beim Biohof Lützelsee.biohof-luetzelsee.ch
Zvieri: im Ritterhaus Bubikon, am Montag geschlossen. ritterhaus.ch

Zwischen Landleben und Industrie

Hombrechtikon hat seine Einwohnerzahl in den letzten fünfzig Jahren verdoppelt. Die Spuren der alten Strecke verlaufen sich unter Neubausiedlungen. Macht nichts, der Wanderweg führt jetzt dorfauswärts wieder ins Grüne, durchs Bochslenholz in Richtung Lützelsee. Das schilfumrahmte Naturschutz- und Naherholungsgebiet strotzt vor Leben. Gefühlt jeder zweite Hombrechtiker Hund macht an diesem Donnerstagmittag die Seerunde mit Herrchen oder Frauchen im Schlepptau. Im seichten Uferwasser stochern Störche nach Futter – ein gefundenes Fressen jetzt, zur Paarungszeit der Frösche.

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Der Wanderer biegt bald weg vom Seeufer und weiter ostwärts. Im hübsch hergerichteten Hofladen in einer Fachwerk-Scheune deckt er sich mit Dörraprikosen und hofeigenem Apfelsaft ein, bevor er ins Strangenholz abbiegt. Dort versperren Waldarbeiter den Weg, aber mit einem kleinen Umweg sind sie rasch umgangen und Wolfhausen erreicht.

Aus dem Landidyll wird jetzt wieder pure Agglomeration. Am Dorfeingang sind die Altbauten teils noch so malerisch, dass in einem Fenster sogar ein Schild steht, das besagt: «Dieses Haus kann nicht besichtigt werden». Weiter unten, in Richtung Hauptstrasse, nimmt die Industrie überhand. Und die Eisenbahn. Endlich!

Das erste Zeichen ist ein dreieckiges Strassenschild, das eine Dampflok zeigt. «Vorsicht!», suggeriert es, genauso wie die Andreaskreuze hundert Meter weiter. Aber Vorsicht ist nicht angebracht, die Gleise, vor denen gewarnt wird, wurden still gelegt. Hinter dem offenen Zaun auf einem Firmengelände steht eine kleine Lokomotive mit einem einzelnen Bahnwaggon, bereit zur Abfahrt.

Es ist einer der wenigen Orte, wo die Kinder auf Gleisen spielen dürfen.

Weit käme das Züglein nicht, denn eine Querstrasse weiter parkieren Autos auf dem Gleis. Doch Wolfhausen hat sich seinen Eisenbahn-Charme stärker erhalten als etwa Hombrechtikon. Das Bahnhofsgebäude ist auch hier hübsch renoviert und heute eine Kita. Davor stehen zwei alte Güterwagen mit abblätternder Farbe auf ihren Schienen. Dorfauswärts ziert eine stilisierte Riesenweiche einen Strassenkreisel und noch etwas weiter verlaufen die Gleise mitten durch den Vorgarten einer Neubausiedlung. Grasbüschel spriessen daraus hervor, und ein Hockeytor steht darauf; es ist wohl einer der wenigen Orte in der Schweiz, wo die Kinder unbeaufsichtigt auf den Schienen spielen dürfen.

Und der Rest?
Auch von der Bahnstrecke zwischen Bubikon und Hinwil ist heute nichts mehr zu sehen. Zwischen Hinwil und Bauma sind die Gleise jedoch erhalten. Die Strecke wurde 1946 von der SBB übernommen. Heute fahren aber keine regulären Züge mehr darauf, dafür in den Sommermonaten Museumsfahrten, organisiert durch den Dampfbahn-Verein Zürcher Oberland.
Von Mai bis September, jeden zweiten Sonntag: dvzo.ch

Schienenschützer setzen sich durch

Die Bahnstrecke zwischen Wolfhausen und Bubikon ist noch praktisch komplett erhalten. Lange Jahre wurde sie noch mehr oder weniger intensiv für Industriefahrten verwendet, später noch im Rahmen von Dorffesten per Dampfbahn. Auch dem drohte bis vor Kurzem ein Ende: Die Gemeinde Bubikon wollte einzelne Streckenabschnitte zum Verkauf ausschreiben. Doch dagegen erhob sich heftiger Widerstand.

Die «Chilbifahrten» oder die Fahrt zum Frühlingsmarkt in Wolfhausen seien «etablierte Volks-Kultur», schreibt die «IG Stammgleis», die gegründet wurde, um eben jenen Ausverkauf der Bahnstrecke zu verhindern. Die Gleis-Schützer scheinen den Kampf zumindest vorerst für sich zu entscheiden: An der Gemeindeversammlung im Dezember konnten sie genügend Mitstreiter mobilisieren, um die Schienen unter Schutz zu stellen.

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Schön, findet der Wanderer, als er sich heimlich auf den steil aufragenden Bahndamm stiehlt. Eine rutschige Kletterpartie ist es, aber die Aussicht auf das sumpfige Weierriet belohnt ihn dafür. Das Gleis selber, von Bäumen eingerahmt, lädt zu einem Spaziergang ein, aber die Vernunft siegt. Es geht auf richtigen Wegen in Richtung Wanderziel. Nach einem Stück der Hauptstrasse entlang, führt der Wanderweg einmal quer über den Golfplatz, wo ein paar Rentner mit Schirmmützen an ihrer Frühform feilen. Das Ritterhaus jenseits des Platzes lädt erst ab April wieder zu Führungen durch den Kräutergarten oder den Johanniterkonvent ein.

Auf den letzten Metern gelangt der Bachtel ins Blickfeld. Er ragt im Hintergrund mit seinem Aussichtsturm in die Höhe. Unten auf dem Wanderweg stellen sich ein letztes Mal zwei Andreaskreuze neben dem alten Gleis auf und tun so, als wäre Vorsicht geboten. Dann verschwinden die Schienen im langgezogenen Schwung in Richtung Bahnhof Bubikon. Nur ein Prellbock und ein paar Meter fehlender Strecke sorgen dafür, dass von hier aus so bald kein Zug mehr in die weite Welt fahren wird.

Mehr spannende Artikel rund um Tiere und die Natur?Dieser Artikel erschien in der gedruckten Ausgabe Nr 06/2022 vom 24. März 2022. Mit einem Schnupperabo erhalten Sie 6 gedruckte Ausgaben für nur 25 Franken in Ihren Briefkasten geliefert und können gleichzeitig digital auf das ganze E-Paper Archiv seit 2012 zugreifen. In unserer Abo-Übersicht  finden Sie alle Abo-Möglichkeiten in der Übersicht.

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