Das reicht jetzt! Wie weit wollt ihr denn noch gehen?» Ein einziges Mal habe ihre Mutter interveniert während ihrer Reise. Das war in Kolumbien, als die Schwestern allein mit dem Kanu den Amazonas befahren wollten, monatelang ohne Handyempfang. Julia und Lisa Hermes machen sich im Juli 2017 auf eine Reise, wie sie wohl nur wenige Menschen wagen würden: ohne Flugzeug oder eigenes Fahrzeug, möglichst umweltfreundlich und nahe bei den Menschen. Sie leben bei Aussteigern, Widerstandskämpfern oder überqueren den Atlantik mit fremden Menschen. Stets auf der Suche nach einer gelebten Utopie, nach Lösungsansätzen für eine bessere Welt.

«Gelebte Utopie ist eigentlich ein Widerspruch», sagt Lisa bei einem Gespräch per Video. «Aber wir waren schon immer Optimistinnen.» Als Jugendliche aus einer kleinen deutschen Gemeinde im Westen des Landes hinterfragen sie das System und träumen von einer eigenen Selbstversorger-Gemeinschaft. «Wir suchen seit unserer Jugend die Utopie», sagen die beiden und wollen verstehen, warum die Welt so ist, wie sie ist. «Wir wollen bei den Menschen sein und erfahren, ob es auch andere Lebensweisen gibt.» Die Idee zur Weltreise ist geboren. Per Anhalter, also trampend und möglichst nachhaltig wollen die Schwestern die Erde erkunden und in die Lebensrealitäten von Menschen ausserhalb ihrer eigenen Komfortzone blicken.

Nach einer zweijährigen Planungsphase geht es für die Schwestern im Juli 2017 los. Ihren Eltern hinterlassen sie einen ungefähren Reiseplan für die kommenden zwei Jahre. Doch sie merken schnell: Sie haben zu optimistisch geplant. «Es wurde uns bewusst, wie weit die Distanzen sind – man kann die Welt nicht in einen Plan zwingen.» Das Trampen läuft nicht immer wie erwartet. Manchmal müssen sie tagelang auf eine Mitfahrgelegenheit warten oder verlaufen sich. Entsprechend müssen sie ihre Pläne immer wieder der Realität anpassen. Dort beginnen die Abenteuer, nach denen sie sich seit ihrer Kindheit gesehnt haben.

Abenteuer und prägende Begegnungen

Der Weg führt sie zunächst nach Frankreich zu den ZAD, den «zones à défendre», wo sich in der Regel kein normaler Bürger hinverirrt. Das sind von «Rebellen» besetzte Gebiete Frankreichs, auf denen der Staat verschiedene Grossprojekte wie Flughafen, Einkaufscenter oder Autobahnen plant und damit droht, die Natur zu überbauen. In einem dieser Lager begegnen die Schwestern Antoine, einem Aussteiger. «Er hat uns gesagt, dass er ohne la ZAD wohl Alkoholiker geworden wäre», erinnern sich die beiden. Er habe als Individuum einfach keinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Im Lager startet er aber eine Bäckerei und beginnt zu imkern. «Er ist wieder mit den Dingen in Kontakt getreten und hat eine Verbindung zu Menschen und der Natur gefunden.» Das sei die Urmotivation vieler Menschen, denen sie unterwegs begegnen: sich als Teil der Natur wiederzufinden, statt sich losgelöst davon zu betrachten.

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Auch Julia und Lisa selbst finden auf ihrer Reise eine neue Verbindung zu ihrer Umgebung und geraten an ihre eigenen Grenzen. Sie übernachten in Tankstellentoiletten, verlassenen Fincas und werden von Männern mit Macheten geweckt, die mitten in der Nacht vor ihrem Zelt stehen und wissen wollen, was sie da tun. Im wilden Patagonien verlaufen sie sich so lange, dass ihre Lebensmittel knapp werden, und treffen schliesslich auf zwei Touristinnen, mit denen sie Pizzareste teilen. Und im Amazonas-Gebiet sind sie mehrere Monate lang ohne Handyempfang unterwegs mit dem Kanu, erhalten frische Bananen und Fisch von Gemeinschaften, die am Fluss leben, und übernachten bei ihnen in Stelzenhäusern. Um ihre besorgten Eltern zu beruhigen, die sie vor der Abfahrt in Kolumbien besuchen, organisieren sie ein GPS-Gerät mit einem Knopf, der den Eltern zu Hause in Deutschland signalisiert, dass sie wohlauf sind.

Als Corona die Welt lahm legte

«Es war ein unglaublich befreiendes Gefühl, so unterwegs zu sein», sagt Julia. «Wir sind mit Vertrauen, aber nie mit Naivität an neue Situationen herangegangen.» Lisa ergänzt: «Dank dem Trampen konnten wir in verschiedene Lebensrealitäten eintauchen und am Leben der Menschen teilhaben.»

Vom Amazonas trampen die beiden südwärts durch Bolivien und gelangen über die Westküste Südamerikas durch Chile, Peru, Ecuador und Kolumbien schliesslich nach Mexiko. «Ich merkte schon, als wir über die Grenze fuhren, dass uns hier etwas Lebensveränderndes erwartet», sagt Lisa. «Es war ein Bauchgefühl.» Und auf dieses können sie sich auf ihrer Reise verlassen.

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Von Mexiko aus wollten die Schwestern eigentlich nach Nordamerika und dort die Beringstrasse nach Sibirien überqueren. Doch das Schicksal hat damals andere Pläne und Corona legt kurz darauf die gesamte Welt lahm. So arbeiten und vertreiben die Schwestern ihre Zeit in einem kleinen Dorf in Mexiko, beobachten die Pandemie und wollen weiterreisen, sobald die Grenzen wieder offen sind. Zu jener Zeit lernt Lisa einen sympathischen Mann namens Adrian im Dorf kennen. «Wir haben eine schöne Zeit miteinander verbracht und als wir dann wieder wegfuhren, merkte ich, dass ich mich total in ihn verliebt hatte», sagt sie. «Ich wusste: Das wird der Vater meiner Kinder.» Sie kehrt schliesslich wieder zu ihm zurück und bringt einige Monate später mit der Hilfe einer Hebamme in Oaxaca ihre Tochter zur Welt. Die traditionelle Hausgeburt schildert sie in den letzten Kapiteln des Buches.

Dann folgt wohl der schwierigste Teil der Reise: die Entscheidung zur Rückkehr und das Buchen der Flugtickets. «In Mexiko ging es einfach nicht mehr vorwärts – die Energie unserer Reise war verloren», sagt Julia. Im Dezember 2021 kehren sie mit vollen Tagebüchern, neuen Eindrücken und einem neuen Familienmitglied nach Deutschland zurück und schreiben ihre Erlebnisse als Buch nieder. «Out there – Zwei Schwestern auf der Suche nach einer besseren Welt» erschien im Juli 2023. «Wir haben auf unserer Reise die Welt als Heimat erlebt und gesehen, dass sie nicht so dunkel ist, wie sie erscheint.» Und Utopia? «Wir haben zwar nicht die bessere Welt gefunden, aber viele Ansätze dafür.»

Die Reise geht weiter

In Deutschland haben die beiden Frauen nicht aufgehört, weiterzureisen, sei dies auch nur in Europa. Die Weltreise aber haben sie vorerst pausiert, bis die Tochter und der Sohn von Lisa, der ein Jahr später zur Familie stiess, gross genug sind. Priorität habe momentan darum die Vision einer eigenen Gemeinschaft: Gemeinsam mit ihren Partnern wollen Julia und Lisa Hermes als Selbstversorger auf einem grossen Hof leben und das Erlebte weitergeben. Gar nicht so utopisch, oder?

Explora Live-ShowAb dem 11. Januar 2024 sind Julia und Lisa Hermes mit «Suche nach Utopia» auf Live-Tournee in der Schweiz zu erleben.
Alle Infos und Tickets auf www.explora.ch