Spätestens seit den Quarantäneverordnungen während Corona scheinen die Menschen wieder mehr raus in die Natur zu gehen und zu merken: Das tut mir gut. Woher kommt diese Erkenntnis, Frau Soldo?

Viele Menschen halten sich einen grossen Teil des Tages in Räumen auf und berühren fast ausschliesslich nur noch Maschinen. Das steht im grossen Kontrast zu unserer ursprünglichen Lebensweise. Jahrtausendelang lebte der Mensch mit und in der Natur, sie war sein Zuhause. An die modernen, naturfernen Gegebenheiten haben sich unser Körper und unser Geist nicht so schnell anpassen können, wie wir das vielleicht glauben. Zusammen mit anderen Faktoren kann das zu Ängsten, Erschöpfung, Schlafproblemen, Depressionen, Herzkreislaufstörungen und Suchterkrankungen führen. In der Natur fühlen wir uns gelassener und können Energie tanken. Naturerfahrungen wirken generell heilsam, geben Kraft und machen glücklicher und zufriedener.

Ist das ein subjektives Gefühl, oder was passiert da im Körper?

Ein Aufenthalt in der Natur verändert unseren ganzen Hormonhaushalt. Es ist nachgewiesen, dass Stresshormone sehr schnell abnehmen und vermehrt Glückshormone ausgeschüttet werden. Gleichzeitig sinkt der Blutdruck, die körpereigenen Abwehrkräfte werden gestärkt und sogar Proteine gegen Krebs produziert. Ein entspannter Tag draussen in der Natur wirkt so kurzfristig oft besser als manches Medikament.

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Gibt es Therapieformen, die sich diese Effekte zunutze machen?

Seit ein paar Jahren wird in der Schweiz das Waldbaden als Therapieform angeboten. Dieses kommt ursprünglich aus Japan, wo es «Shinri Yoku» genannt wird, was so viel bedeutet wie «ein Bad in der Atmosphäre des Waldes nehmen», daher auch der deutsche Name. In Japan ist Waldbaden ein fester Bestandteil der Gesundheitsvorsorge geworden, und viele Studien konnten dessen Wirksamkeit belegen. Dabei nimmt man sich bewusst eine Pause vom Alltag und erlebt seine Umgebung auf eine achtsame Art und Weise. Man nimmt sich Zeit, den Duft des Waldes wahrzunehmen, den Vögeln und dem Wind zu lauschen, Moos und Rinden zu berühren, den Geschmack von Kräutern und Beeren zu probieren. Das ist erholsam und anregend zugleich, ohne Leistungsdruck.

Im Gegensatz zu Japan übernimmt hierzulande die Krankenkasse die Kosten für eine solche Therapie nicht. Stehen die Schweizer dem Effekt der Natur auf die Gesundheit noch skeptisch gegenüber?

Inzwischen wird auch bei uns über die Wirkung des Waldbadens geforscht. Tatsächlich ist wissenschaftlich bestätigt, dass es viele positive Wirkungen hat, wie den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel zu senken, Stress zu reduzieren, Depressionen zu lindern und das Immunsystem zu stärken. Zudem verbessert Waldbaden die Konzentration und das Gedächtnis.

Welche Voraussetzung muss ein Ort in der Natur erfüllen, um einen besonders positiven Effekt zu haben?

Eine intakte, natürliche Umgebung wirkt grundsätzlich beruhigend und positiv stimulierend zugleich. Wilde, unberührte Gebiete mit sauberer Luft, gesunden Böden und einer grossen Artenvielfalt können diese Wirkung verstärken. Allerdings dürfen dabei keine Ängste aufkommen, wie Einsamkeit oder die Furcht vor Tieren, denn das würde das Wohlbefinden negativ beeinträchtigen. Wo man sich wohlfühlt, ist individuell, und das spürt jeder selbst am besten. Manche mögen einen Park lieber als einen ursprünglichen, abgelegenen Wald.

Und dann das Handy am besten zu Hause lassen?

Oder es ausschalten, ja. Das Wesentliche ist, sich Zeit zu nehmen, zu entschleunigen, durch die Gegend zu streifen und keinen Leistungs- oder Zeitdruck zu haben. Seiner Intuition zu folgen und einfach das zu tun, was für einen gerade stimmt. Dieses Gefühl ist heutzutage ja leider Luxus. Langsam gehen und mit offenen Sinnen die Umgebung wahrzunehmen, muss man oft wieder lernen, als Kind war das viel einfacher. Aber diese Form von Achtsamkeit lohnt sich, und man kann danach gestärkt in den Alltag zurückkehren.

Nicht alle haben den Luxus, einen schönen Wald oder gar unberührte Natur in der Nähe zu haben. Haben Zimmerpflanzen oder ein bepflanzter Balkon einen ähnlichen Effekt?

Zimmerpflanzen produzieren Sauerstoff, befeuchten und filtern die Luft und verschönern den Raum. Das sind alles positive Effekte. Allerdings sind die meisten Zimmerpflanzen Pflanzen aus den Tropen, die hier nicht in ihrer natürlichen Umgebung wachsen und keine Interaktionen mit anderen Lebewesen wie Pilzen, Bestäubern oder anderen Pflanzen eingehen können. Sie haben also durchaus einen positiven Effekt, den kann man jedoch nicht mit dem eines ganzen Ökosystems draussen vergleichen.

Eine intakte Natur vermittelt uns also mehr das Gefühl, dass alles in Ordnung ist?

Ja, und hier besteht auch eine Wechselwirkung. Fühlen wir uns in der Natur wohl und mit ihr verbunden, so kümmern wir uns auch vermehrt um sie. Das kommt dann nicht nur der Natur zugute, sondern auch uns, denn so profitieren wir wiederum von einer gesünderen Umgebung.

Was denken Sie: Hat sich das Bewusstsein für die Natur in letzter Zeit eher verbessert oder verschlechtert?

Es kommt darauf an, wie man Bewusstsein definiert. Wenn damit der Verstand und der Erkenntnisgewinn gemeint sind, dann hat sich unser Wissen durch die Forschung stetig verbessert. Allerdings entfernen wir uns mit den Sinnen von der Natur. Nehmen wir zum Beispiel die Pflanzen: Wir wissen immer besser, wie sie funktionieren, aber gleichzeitig nehmen wir sie kaum noch als Lebewesen war. Im Leben geht es im Wesentlichen um Beziehungen, sowohl zu uns selber und zu unseren Mitmenschen, aber auch zu unserer Umgebung. Wer mit der Natur in Beziehung tritt, der stärkt die Zugehörigkeit zum Leben. Wenn man das Leben in der Natur um sich herum bewusst wahrnimmt, dann fühlt man sich nicht allein, dann kommt die Erfahrung einer Anbindung an etwas Grösseres. Und dies macht lebendig, und damit schlussendlich auch glücklicher und zufriedener.


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Zur Person

Diana Soldo, Jahrgang 1968, hat Biologie an der ETH Zürich studiert und dort auch ihre Doktorarbeit in Ökologie abgeschlossen. Sie war mehrere Jahre Geschäftsleiterin des Kompetenzzentrums Pflanzenwissenschaften der ETH Zürich, Universität Zürich und Universität Basel. Danach hat sie Klimastudien geleitet und Kantone beraten. Heute setzt sie sich ein für einen achtsamen Umgang mit der Natur und schafft mit Waldexkursionen und Waldbaden den Menschen einen lebendigen Zugang zur Natur.

waldexkursionen.ch