Warum fühlen Sie sich von Raubtieren angezogen, Herr Zihlmann?

Raubtiere sind besondere Charaktere. Sie sind Persönlichkeiten. Zudem fühle ich mich mit dem Zirkus und mit der Arbeit mit Tieren verbunden.

Was genau machen Sie im Sikypark?

Wir züchten keine Raubtiere. Das ist nicht unsere Aufgabe. Die modernen Zoos leisten da eine sehr wichtige Arbeit, indem sie Wildtiere unterartenrein züchten, wie beispielsweise den Amurtiger oder den Berberlöwen. Als ich 2017 von einem Wildtierrettungspark sprach, sagten alle, dass dies in der Schweiz nicht notwendig sei. Heute haben wir über 550 Tiere, und es werden immer mehr. Leider können wir nicht alle aufnehmen. Wir bieten alten oder unerwünschten Wildtieren ein artgerechtes Leben, die von wissenschaftlich geführten Zoos nicht aufgenommen werden können.

Und dazu gehört, dass Sie zu ihnen ins Gehege gehen, wie beispielsweise bei den Tigern?

Ja, denn sie sind den Umgang mit dem Menschen ein Leben lang gewohnt. Sie brauchen die Ansprache und Anregung ihrer Bezugspersonen. Werden ehemalige Zirkustiere nicht durch den Menschen beschäftigt, so entwickeln sie Verhaltensstörungen oder werden gar aggressiv. Ich mache kein Zirkustraining mit ihnen, die Kontaktnahme dient der Freundschaftspflege. Doch im Idealfall wird es unnötig, wie bei den Löwen.

Erzählen Sie.

Das Löwenmännchen Zumba und das Weibchen Timba stammen aus dem aufgelösten Park René Stricklers. Wir haben zudem das 17-jährige Weibchen Sabu übernommen, das einen Herzfehler hat. Das Männchen fühlt sich nun als Chef der Gruppe. Der Kontakt zu mir ist nicht mehr nötig. Zum Weibchen Timba habe ich zwar nach wie vor eine gute Beziehung. Es kommt ans Gitter, wenn ich rufe, und geniesst die Streicheleinheiten. Nachher streift es durch die über 2000 Quadratmeter grosse Anlage wieder zum Männchen. (Zihlmann steht vor dem Gehege, ruft, doch Timba bleibt auf der Plattform liegen, hebt nur den Kopf, Zihlmann schmunzelt.)

Sind Männchen unberechenbarer oder gefährlicher als Weibchen?

Das kommt auf die Konstellation an. Ehemalige Zirkuslöwen spiegeln nicht das Verhalten von Löwen in der Natur. Optisch sind es zwar Löwen, doch sie verhalten sich unterschiedlich. Ich muss das Individuum kennen. Generell gilt, dass junge Weibchen im Umgang und Training einfacher sind und später schwieriger werden, bei Männchen ist es umgekehrt.

Machen die Tiere gerne mit?

Ja, das ist das Schöne. Es sind Katzen. Wenn sie Aufmerksamkeit möchten, fordern sie die auch ein.

Was bringt es einem Tier, wenn es trainiert ist?

Sehr viel. Mir ist es wichtig, Tiere auszubilden. Jeder, der eine Katze hält, soll sie ausbilden. Unsere Löwen gehen problemlos in eine Transportkiste. Wenn ich Löwen und Tiger heute Nachmittag transportieren will, ist das schnell gemacht. Aufgrund von Speichelproben, die Zirkustieren entnommen wurden, ist bekannt, dass Transport für sie kein Stress bedeutet, im Gegensatz zu Zoolöwen oder Löwen aus der Wildnis. Ein Medical Training bewirkt, dass der Tierarzt dem Tier beispielsweise Blut entnehmen kann, ohne dass es narkotisiert werden muss.

Sind dressierte Löwen alle von Hand aufgezogen worden?

Nein, das ist ein altes Märchen. Ideal sind einjährige Tiere, die von der Mutter aufgezogen wurden. Wenn ein Tierlehrer mit seinen Löwen kuschelt, dann hat er meist zwei handaufgezogene in der Gruppe, mit denen er das machen kann. Sie arbeiten aber in der Nummer kaum mit, die elternaufgezogenen sind aktiv. Eine Handaufzucht hat keine natürliche Distanz mehr zum Menschen, das ist in der direkten Arbeit ein Problem.

Finden Sie es gut, dass es in Schweizer Zirkussen keine Raubtiernummern mehr gibt?

Ich finde es schade, dass sie nicht adaptiert wurden. Warum reist ein Tierlehrer nicht mit drei, anstatt zehn Tieren, mit dem gleichen Platzangebot wie für zehn und präsentiert sie zeitgemäss, das heisst, macht auf ihre Schönheit und Anmut aufmerksam und fördert das Verständnis für den Tierschutz? Ich bin sicher, dass das beim Publikum ankäme. Zirkusse oder Zoos sind aber gar nicht das Problem.

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Worauf wollen Sie hinaus?

Viel schlimmer ist Social Media. Hier! (Er zückt sein Mobiltelefon, wischt auf dem Display und zeigt ein Bild einer Frau, die einen Löwen am Halsband führt, wischt weiter zu einem arabisch gekleideten Mann mit einem Tiger an der Leine, als wäre es ein Hund.)

Damit hat die Schweiz aber nichts zu tun, das sind doch Bilder aus dem Ausland.

Ein Irrglaube! Die Bilder sind zwar aus dem arabischen Raum, doch sie werden hier zahlreich gelikt und geteilt. Die Leute finden das cool. Damit gibt man dem Influencer Aufmerksamkeit, oft auch Geld und man nimmt an einem üblen Kreislauf teil. (Zeigt wieder ein Handy-Bild mit einer Frau und einem jungen weissen Tiger.) Sie züchtet die Tiger in Deutschland, bietet sie im Netz an, da ist ein grosser Handel im Gang, alles auf Social Media. Illegalerweise werden Junge durch die Schweiz geschleust. Den Tieren werden sogar die Krallen samt Gelenken entfernt, damit sie sich nicht mehr wehren können. Sie werden als Statussymbol gehalten und generieren Likes. Ein grausames Geschäft und eine grosse Tierquälerei.

Gibt es denn in der Schweiz Grossraubkatzen, die ein neues Zuhause brauchen?

Der Sikypark begann mit dem Bestand an Raubtieren von René Strickler, der in Subingen SO wegmusste. In der Schweiz gibt es aus Platzgründen zwar kaum illegal gehaltene Löwen oder Tiger, aber es gibt Raubtiere, mit denen die Besitzer nicht zurechtkommen. (Geht in Richtung eines von Gras bewachsenen Geheges). Hier zum Beispiel, dieser Karakal und der Serval stammen aus der Schweiz. Löwen oder Tiger nehmen wir aus dem benachbarten Ausland auf. Derzeit erhalten wir viele Anfragen aus Frankreich, denn die Regierung macht Druck auf Zirkusse mit Wildtieren.

Löwen und Katzen verhalten sich ähnlich. Respektive: Zählt für die Katze, was für den Löwen?

Ich habe früher auch Hauskatzen ausgebildet. Es gibt Ähnlichkeiten. Eine Katze hat aber mit einem Tiger mehr Eigenschaften gemeinsam, sie ist mehr auf sich selbst bezogen.

Was sind die Unterschiede zwischen Tiger und Löwe?

Ein Löwe ist von Grund auf ehrlich, ein Tiger gaukelt etwas vor. Löwen leben im Rudel, Tiger sind Einzelgänger und somit Individualisten. Wer im Rudel lebt, muss authentisch sein, wer einzelgängerisch unterwegs ist, kann sich Launen erlauben.

Zur Person
Marc Zihlmann (42) erlernte ursprünglich den Beruf des Wildtierpflegers und ist seit 2017 Direktor des Sikyparks in Crémines BE. Er war in verschiedenen Zoos tätig, arbeitete als selbstständiger Berater sowie Tiertrainer und organisierte Tierpräsentationen. Schliesslich eignete er sich beim Raubtierlehrer René Strickler den direkten Umgang mit Grossraubtieren an.
sikypark.ch