Kanarienvögel und der Mensch sind seit hunderten von Jahren miteinander verbunden. Seit der Eroberung der Kanarischen Inseln durch die Spanier anfangs des 15. Jahrhunderts spielt der kleine Sänger eine grosse Rolle in der europäischen Menschheitsgeschichte. Zum Beispiel in Sankt Andreasberg im deutschen Harz. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde dort ein ganz besonderer Kanarienvogel herausgezüchtet. Der Harzer Roller erlangte Weltruhm. Die Bezeichnung Roller weist auf die besonderen Gesangstouren hin.

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Eine Nachtigall singt vor

Der Gesang wird bei Kanarienvögeln nicht vererbt, sondern erlernt. Das heisst, dass gute Vorsänger wichtig für junge Kanarienvögel sind. Das wurde schon im 16. Jahrhundert in Imst am Inn im Tirol von Liebhabern erkannt. Bereits damals wurden Kanarienvögel in den Tiroler Alpentälern hauptsächlich durch Bergleute gehalten. Sie verbrachten ihre Arbeitsschichten unter Tage und widmeten sich in ihrer spärlichen freien Zeit dem Gesang der Kanarienvögel und deren Zucht. Ihr Gehör war dermassen geschult, dass sie sich auf die Gesangsmelodien konzentrierten. Sie setzten Nachtigallen als Vorsänger für die Jungvögel ein. Nachtigallen haben einen zauberhaften Gesang, der auch aus Rollen besteht. Das liess sich mit viel Geduld auf die Kanarienvögel übertragen und verfestigte sich.

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Bergleute verbreiten Kanarien

Vom Tirol aus machten sich Vogelhändler mit vielen Einzelkäfigen auf einem Reff am Rücken auf den Weg in Richtung Norden und gelangten auch in das Gebiet im Harz. Später wanderten Bergleute aus Imst im Tirol ins Harz aus, weil die Bezahlung in den dortigen Bergwerken besser war. Ihre Kanarienvögel nahmen sie mit. So entwickelte sich im Harz die Zucht der Harzer Roller, die Weltruhm erlangen sollte.

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Von Hohlpfeifen und Glucktouren

Einer, der sich besonders mit deren Zucht hervortat war der Bergmann Wilhelm Trute. Er lebte von 1836 bis 1889 in der Bergstadt St. Andreasberg im Harz. Sein Verdienst und besonders auch das seiner Frau Minna bestand darin, als Erste den Gesang in langwieriger Zucht kultiviert zu haben. Für die verschiedenen Gesangsmelodien gibt es Bezeichnungen wie die Hohlpfeife, Schwirrrolle, Knarre, Klingelrolle oder Glucktouren und die Hohlrolle.

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800 Meter unter Tage

Wenn Wilhelm Trute den Melodien seiner Kanarien lauschte, hatte er einen anstrengenden Tag hinter sich. Er begann um 4 Uhr mit dem Abstieg. Riesige Wasserräder trieben eine Fahrkunst an, die es den Männern ermöglichte, in 45 Minuten in eine Tiefe von rund 800 Metern ins Erdreich vorzudringen. Mit einer Öllampe in der Hand, kroch der stämmige, leicht untersetzte Trute in seinen Stollen, kniete sich hin und begann, Silberadern frei zu legen. Schweisstropfen traten aus seinen Poren. So tief im Erdinnern war es etwa 40 °C heiss. Pausen gab es um 7 und 11 Uhr. Erst um 16 Uhr konnte er wieder nach oben an die frische Luft, sah die Sonne, Schnee oder das Grün der Bäume. Sein Vater konnte noch nicht von der Fahrkunst profitieren. Er kletterte todmüde nach getaner Arbeit hunderte von Metern wieder in die Höhe.

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Kanarienvögel als Lebensversicherung

Mit im Stollen war meist auch ein Kanarienvogel in einem kleinen Käfig. Nicht zur Erbauung des Bergmanns, sondern als seine Lebensversicherung.

Sehr gefährlich im Stollen ist das geruchslose Kohlenmonoxid. Bereits geringe Konzentrationen können sich tödlich auswirken. In der Lunge des Menschen mischen sich verbrauchte und frische Luft. Bei Vögeln ist das anders. Kontinuierlich durchströmt Frischluft die Luftsäcke. Darum zeigen Kanarienvögel Kohlenmonoxid durch Apathie, Ohnmacht und schliesslich durch Tod an. Der Bergmann behielt bei der Arbeit seinen Kanarienvogel stets im Auge und reagierte sofort, wenn der Vogel träge wurde.

Treffendes Gehör

Von Wilhelm Trute wird berichtet, dass er eigentlich gar nicht mehr hätte unter Tage gehen müssen. Mit dem Verkauf seiner Kanariennachzuchten nahm er mehr ein als durch seine Tätigkeit im Berg. Doch er schwor darauf, in die Tiefe zu steigen. Er glaubte, dass darum sein Gehör nicht abstumpfte. Es war die Gewähr für seine Zuchtlinie, die europaweit zum Begriff wurde.

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Ein Harzer-Roller-Museum

Die faszinierende Geschichte des Oberharzer Erzbergbaus in Sankt Andreasberg in Verbindung mit der Kanarienzucht wird im einzigartigen Harzer-Roller-Kanarien-Museum in Sankt Andreasberg dokumentiert. Jochen Klähn hat dort zahlreiche Utensilien aus der Kanarienzucht gesammelt und lebensecht zusammengestellt. So hat er eine Stube, wie sie bei den Bergbauleuten ausgesehen haben mag, nachgebaut und zeigt mit unzähligen Dokumenten die grosse Bedeutung der Kanarienzucht.

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Export bis nach Amerika

1883 züchteten 350 Familien, die Hälfte der Einwohner, in Sankt Andreasberg Kanarienvögel, bauten Käfige und verkauften Nachzuchten mit perfektem Gesang. Harzer Kanarien wurden bis nach St. Petersburg in Russland und in die USA verkauft.

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Die Bergleute brachten sie in Kleinkäfigen auf einem Reff zu grösseren Sammelstellen. Von da wurden sie auf Rosswagen bis nach Hamburg transportiert, wo sie die Schiffsreise antraten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde über eine Million Harzer Roller exportiert.

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Kanarienzucht heute

Die Gesangskanarienzucht ist bis heute ein eigener Zweig der Kanarienvogelzucht, nebst den Positur- und den Farbkanarien. In der Schweiz hat sie aber einen schweren Stand und wird nur noch ganz marginal betrieben. In anderen europäischen Ländern wie Belgien und Deutschland hat sie einen grösseren Stellenwert.   

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Wildform
Den gelben, weissen, roten oder gescheckten Kanarienvogel, wie er heute aus Volieren bekannt ist, gibt es so in der Natur nicht. Er wurde domestiziert. Die Wildform ist der Kanarengirlitz, der auf den Kanarischen Inseln, auf Madeira und den Azoren lebt. Es handelt sich um einen gelblich-braun gestreiften, unscheinbaren Vogel, sehr ähnlich unserem Girlitz. Auch der Kanarengirlitz singt melodiös.
Hinweisauf das Museum: kanarien-online.de/06b_Museum oder oberharz.de