Der Wolf lässt nicht lange auf sich warten. Eben noch schwärmte Ismatullah Jumanov von der artenreichen Tierwelt des Tian-Shan-Gebirges, von Wildschafen, Murmeltieren und seltenen Schmetterlingen, da steht der gefürchtete Räuber urplötzlich vor den Wanderern – weniger als 500 Meter entfernt. Aus der Deckung eines Wacholderhains blickt er die Eindringlinge mit wachsamen Augen an.

Beginnen wir unsere Wanderung in die Wildnis Kasachstans also ganz am Ende der Nahrungskette mit ein bisschen Herzklopfen. Der Wolf verfolgt aufmerksam die sich vorsichtig nähernden Menschen. Er scheint keineswegs verängstigt. Bald taucht hinter ihm ein zweites Tier auf. Ob es ein ganzes Rudel ist? «Sie kennen mich seit Langem», flüstert Jumanov, «nicht weit von hier ist ihr Bau. Ich war oft in ihrer Nähe, als sie ihre Welpen aufgezogen haben. Vielleicht sehen sie mich ja wie einen entfernten Verwandten.»

Jumanov ist Biologe. Niemand kennt die Tierwelt im Naturreservat Aksu Jabagly, Zentralasiens ältestem Schutzgebiet, besser als er. Seit 17 Jahren erforscht er Fauna und Flora im westlichen Tian-Shan-Gebirge im wilden Grenzgebiet zwischen Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan. Von hier zieht sich das Tian Shan fast 2500 Kilometer bis nach China.

«Eigentlich ist mein Forschungsgebiet ja die Botanik», sagt der Usbeke, «aber weil es hier sonst niemand anderes gibt, der sich der Tiere annimmt, kümmere ich mich um sie.» Das Wolfsrudel, das er seit fünf Jahren begleitet, hat sich langsam an die Präsenz des 50-Jährigen gewöhnt. Er konnte die Tiere nicht nur bei der Aufzucht der Welpen, sondern auch bei der Jagd auf Steinböcke beobachten. Immer wieder kam er auch Bären sehr nah. «Zweimal wurde es brenzlig», erzählt er, «aber nie wirklich gefährlich.»

Drakonische Strafen für Wilderer
In seiner Tarnuniform und mit den strengen, von Fältchen gerahmten Augen, wirkt Jumanov eher wie ein langgedienter Militär als ein empfindsamer Botaniker. Seine Wahlheimat hat viele gegensätzliche Seiten: weite Hochebenen, liebliche Alpwiesen und schroffe, ewig schneebedeckte Gipfel, von denen einige über 7000 Meter aufragen.

Einst bildete das Gebirge eine natürliche nördliche Barriere zur Seidenstrasse. Die Handelskarawanen fürchteten die Hochtäler als Revier von Wölfen, Bären und Banditen. Der westliche Teil des Tian Shan ist seit 2016 Unesco-Welterbe. Die drei aneinandergrenzenden Schutzgebiete Aksu Jabagly in Kasachstan, Besh Aral in Kirgistan und Chatkal in Usbekistan bilden seine Herzstücke.

Weltabgeschiedenheit, erhabene Bergkulissen und Artenvielfalt machen die Gegend zu einem aussergewöhnlichen Wanderziel – allen voran Aksu Jabagly. Seit 1926 ist das Reservat streng geschützt. Hier oben begegnet man selten anderen Menschen. Jenseits der endlosen Steppenebenen Kasachstans mit ihren verfallenen Fabriken und Industrieruinen aus der Sowjetzeit wirkt das Naturreservat sonderbar entrückt.

Bald nachdem man die Reservatsgrenze überschreitet, weicht die geknechtete Natur und der bleierne, vom Kabelgewirr unzähliger Stromleitungen durchschnittene Himmel über den einstigen Kolchosen einer Wildnis, an die seit fast 100 Jahren kaum ein Mensch Hand angelegt hat. «Illegale Jagd gibt es hier nur vereinzelt auf Bären und Maral-Hirsche», sagt Jumanov. «Die drakonischen Strafen schrecken die meisten Wilderer ab.»

Isabellbären und der Yeti-Mythos
Wer mit Jumanov durch die Wildnis wandert, lernt das Staunen über ein hochalpines Ökosystem, das noch fast intakt ist. Vom Boden pflückt er die Kapselfrucht einer verdorrten Blume. «Der Rest einer Tulpe», erklärt er, «im Frühjahr sind die Wiesen rot von ihren Blüten.» Glaubt man dem Botaniker, haben unsere Garten-Tulpen ihre Urahnen in Zentralasien. Selbst die Vorväter unserer Äpfel will er im Tian Shan beheimatet wissen. «Hier gibt es Asiatische Wildäpfel, von denen der Kulturapfel abstammt.» Einen davon hat er am Wegesrand entdeckt. Er sieht aber stark gerupft aus. Die Äste sind zu Boden gedrückt.

«Da hat sich wohl ein Bär zu schaffen gemacht», sagt Jumanov. Blicken lässt sich der Apfeldieb aber nicht. Die Bären des Tian Shan gehören zu einer besonderen Unterart des Braunbären. Sie zeichnen sich durch ein helleres, oft rötliches Fell aus und werden als Isabellbären bezeichnet. Anders als die tibetische Unterart, die erst recht spät in den Himalaja einwanderte, überdauerten die Isabellbären die letzte Eiszeit in den zentralasiatischen Hochgebirgen.

Forscher vermuten, dass der Yeti-Mythos auf den Isabellbären zurückgeht. Vermeintliche Fellreste des sagenumwobenen Schneemenschen liessen sich durch Gen-Analysen der New Yorker University at Buffalo mehrfach auf diese Bären-Unterart zurückführen. «Viele Menschen hier glauben noch immer an den Yeti», sagt Jumanov. «Einige nennen ihn Jez Ternak, den Mann mit den eisernen Klauen oder Ziegenmensch. Einige Ältere wollen ihm gar begegnet sein. Sie warnen davor, allein in den Bergen unterwegs zu sein.» 

Jumanovs Kamerafallen entlang der Bergkämme erwischten zwar keinen Yeti, aber einen anderen sagenumwobenen Bewohner des Tian Shans: Der Schneeleopard ist der geheimnisvollste Räuber des Hochgebirges. Vier Aufnahmen gibt es. Jumanov selbst hat die scheue Grosskatze nur ein einziges Mal beobachtet. Ihr Revier liegt in weit über 2000 Meter jenseits der Baumgrenze. Dennoch gerät der Schneeleopard immer wieder mit Viehzüchtern in Konflikt. Sein Fell und seine Knochen werden noch immer illegal in China gehandelt. Mehr noch machen ihm die Verfolgung durch Hirten und die Bedrohung seines Lebensraums durch Überweidung und den Klimawandel zu schaffen.

Statt weiteren Raubtieren beobachten die Wanderer an diesem Nachmittag nur ein Wildschwein, einen am Himmel kreisenden Steinadler, eine Schar Chukarhühner, zahlreiche weitere Vögel und Schmetterlinge. Auf einer windgepeitschten Hochebene zeigt
Jumanov der Gruppe Petroglyphen. Die Felsbilder sollen beweisen, dass Jäger hier bereits in der Bronzezeit Argali-Schafen, Steinböcken und Maral-Hirschen nachstellten.

Auch zwei Felsgravuren, die einen Schneeleoparden und einen mutmasslichen Yeti darstellen sollen, will Jumanov entdeckt haben, weit oben über den Bergwiesen in 3700 Meter Höhe. Um sie zu bestaunen, müssten die Wanderer eine Kletterausrüstung mitbringen. Den in Stein gemeisselten mythischen Wesen werden sie heute jedenfalls nicht mehr begegnen. Es ist Zeit für den Rückweg.

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Hinweis
Diese Reise fand vor der Corona-Pandemie statt. Da sich die Flugpläne derzeit noch regelmässig ändern, verzichtet die «Tierwelt» auf Tipps zur Anreise. Geoplan stellt massgeschneiderte Rundreisen zu den wichtigsten Nationalparks und Sehenswürdigkeiten entlang der Seidenstrasse in Usbekistan, Kasachstan und Kirgistan zusammen.

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