Die Detonation ist gewaltig. Die Druckwelle ein Schlag gegen die Brust. Die Erschütterung ein kleines Erdbeben. Dann regnet es Steinchen. Eine Staubwolke zieht vorbei. Noch Sekunden nach der Sprengung ist das Echo des Knalls deutlich zu hören. Wie ein Querschläger wird es von einer Bergwand zur anderen geworfen, bis es endlich verhallt. Die gut 40 Kilogramm schwere Stahlgranate ist derweil Geschichte. Der Steinbrocken, auf dem der kapitale Blindgänger gelegen hat, auch. Die Explosion hat ihn regelrecht pulverisiert.

Rund 30 Meter entfernt, gut geschützt in einer Senke hinter einem Felsblock, schaut ein junger Mann in die Runde und sagt: «Wir bleiben noch einen Moment unten.» Kurz darauf klopft er den Staub von seinem Kämpfer und richtet den Helm. Der Fachberufsunteroffizier gehört zur Truppe «Kampfmittelbeseitigung und Minenräumung» (Kamir) der Schweizer Armee. Da er auch humanitäre Einsätze in Krisengebieten wie dem Kongo absolviert, bleibt seine Identität aus Sicherheitsgründen geheim.

 

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Das Militär räumt auf: Video zum «Tierwelt»-Artikel in der Ausgabe Nr. 40
vom 4.10.18. (Video: René Schulte)



600 Einsätze, knappe Ressourcen
Wir befinden uns auf dem Simplon im Oberwallis. Genauer: an der Nordflanke des Böshorns, gleich unterhalb des Sirwoltusees. Ein Zielgebiet für Artillerieübungen der Armee. Während zwölf Wochen im Jahr schlagen hier oben, auf 2300 bis 2400 Meter über Meer, Geschosse von Haubitzen und Minenwerfern ein. Übrig bleiben Blindgänger und tonnenweise Munitionsschrott. «In erster Linie Metallfragmente explodierter Granaten», sagt der Kamir-Spezialist. Diese können klitzeklein bis ellenlang sein, noch schön lackiert oder bereits rostig. Damit dieser «Militärmüll» nicht ewig liegen bleibt, finden regelmässig Räumungsaktionen statt.

Gemäss Statistik der Blindgängermeldezentrale werden schweizweit pro Jahr 10 bis 20 Räumungen auf Schiessplätzen durchgeführt. 2017 waren es aber nur deren vier. Aus Ressourcengründen. «Wir sind 26 Leute, die ins Feld gehen. Fünf bis sechs davon im Ausland. In der Schweiz leisten wir über 600 Einsätze pro Jahr, oft mehrtägige», sagt der Kamir-Spezialist. Dazu gehören nebst Räumungen die Bearbeitung von Blindgängermeldungen sowie das Bergen von sogenannter Fundmunition. 

Bei Letzterem handelt es sich um nicht verschossene, liegen gelassene oder vergessene Munition. Solche findet sich vor allem im urbanen Siedlungsraum. «Das ist der Generationenwechsel: Ehemalige Soldaten sterben, Häuser werden vererbt, Wohnungen aufgelöst, und die Hinterbliebenen finden im Keller ein ‹Souvenir› aus der Dienstzeit.» Oder Weltkriegsmunition, die jemand einst über die Grenze geschmuggelt hat.

Patronen heikler als Granaten
Zurück ins Wallis. An diesem Donnerstag Ende August sind nebst dem Kamir-Spezialisten 15 Soldaten eines Betriebsdetachements sowie drei erfahrene Mitarbeiter des Schiessplatzes Simplon vor Ort. Ihr Einsatz dauert zwei Wochen. Eine erste Räumung fand bereits im Juni statt. Im unwegsamen, zum Teil steilen Gelände suchen die Mannen eine mehrere Hektar grosse Fläche ab. Die 25 Kilogramm fassenden Kunststoffsäcke, die sie mit sich führen, sind jeweils schnell gefüllt – Fazit der gesamten Räumaktion: 22 Tonnen – und werden in rot markierten Depots abgelegt. So sind sie besser sichtbar, wenn der Helikopter kommt, um sie einzusammeln.

Die Suchmannschaft am Boden hat keine solche Lokalisierungshilfe. Ganz kleine Metallsplitter werden auf den Schutthalden und kargen Grünflächen schnell einmal übersehen. Dasselbe gilt für grössere Teile, die zwischen Steine gerutscht sind. «Es ist unmöglich, jedes einzelne Fragment zu finden», sagt der Kamir-Spezialist. Die Gefahr, dass Munitionsreste den Boden verseuchen, sieht der 28-Jährige in diesem Fall weniger. «Granaten und Raketen sind heutzutage vor allem aus Stahl und Aluminium gefertigt. Kleinkalibergeschosse sind diesbezüglich heikler.»

Gemeint sind Patronen für Feuerwaffen wie Pistolen und Maschinengewehre. Deren Hülsen sind zwar meist aus Messing gefertigt, die Kugeln dagegen enthalten Blei, ein giftiges Schwermetall. Auf regulären Schiessständen gibt es dafür Kugelfänge. Auf vielen Schiess- und Waffenplätzen sowie bei Militärmanövern im Nirgendwo fehlen aber solche Vorrichtungen. Einzig sichtbare Munitionsreste können eingesammelt werden. Projektile, die in Bäumen, Sandhügeln oder im Bachbett landen, sind dagegen so gut wie verloren. 

Dass solche Überbleibsel die Natur belasten können, ist der Armee bewusst. Schiessplätze, die sie schliesst, werden deshalb nach Notwendigkeit und Möglichkeit saniert. «Ich habe schon erlebt, dass nach einer Räumung die obere Erdschicht abgetragen und entsorgt wurde», sagt der Kamir-Spezialist. Das gehe aber längst nicht überall. 

Ein Spezialfall ist das ehemalige Munitionslager Mitholz im Berner Oberland. Nach einer Explosion 1947 befinden sich in den eingestürzten Anlageteilen und im Schuttkegel noch gut 3500 Tonnen Munition mit mehreren Hundert Tonnen Sprengstoff. Ein weiterer Einsturz oder eine Selbstzündung könnten eine Kettenreaktion auslösen. Wie es weitergeht, eruiert derzeit eine vom Bundesrat eingesetzte Arbeitsgruppe.

Insekten werden weggeschleudert
Was Wildtiere anbelangt, ist davon auszugehen, dass sie das Weite suchen, wenn es irgendwo «chlöpft und tätscht». Mit Ausnahmen. Auf dem Waffenplatz Hongrin beim Col des Mosses im Waadtland zum Beispiel soll es auch lärmresistente Profiteure geben. «Dort hat es Explosionskrater, die sich mit der Zeit mit Wasser gefüllt haben. Heute sind das Tümpel, in denen Amphibien leben», sagt der Kamir-Spezialist. Dass daneben immer noch mit Minenwerfern geschossen und gesprengt werde, scheine sie nicht gross zu stören.

Ob bei Schiessübungen auf dem Simplon schon mal Gämsen, Hirsche oder Murmel­tiere zu Schaden gekommen sind, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob ein Tier je einen Blindgänger ausgelöst hat. Die Wahrscheinlichkeit schätzt der Kamir-Spezialist als sehr gering ein. Und bei Räumungen wird eh genau geschaut, ob sich irgendwelche Lebewesen im Gefahrenbereich befinden. Bei den Schwebfliegen, Hummeln und Heuschrecken, die sich am Böshorn tummeln, ist das natürlich schwierig, aber: «Die meisten werden wohl von der Druckwelle weggeschleudert.»

Das grösste Augenmerk gehört am Ende der Sicherheit des Menschen. Als per Funk die Meldung kommt, dass sich Wanderer dem Gebiet nähern, wird eine geplante Sprengung sofort abgebrochen. Zu Recht. Denn als sie drei Stunden später nachgeholt wird, fliegen noch in 300 Meter Entfernung Steine durch die Luft. Geschosse, die tödlich sein können.


 

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