Die Liebe der Briten zu Bäumen kennt kaum Grenzen. Jede Grafschaft rühmt sich, über den Original-Mulberry-Baum zu verfügen – den Baum, der das beliebte Kinderlied «Here We Go Round The Mulberry Bush» hervorgebracht hat.Städte und Dörfer wetteifern miteinander um die Ehre, den ältesten, heldenhaftesten, geschichtsträchtigsten oder auch einfach nur schönsten Baum ihr Eigen zu nennen. Der berühmteste ist zweifellos der Robin-Hood-Baum in Sherwood Forest, nahe Nottingham.Es ist eine englische Eiche und an die tausend Jahre alt. Jedes Schulkind in England weiss, dass hier an dieser Eiche der Platz war, an dem sich Robin Hood und seine Männer vor dem üblen Sheriff von Nottingham versteckten. Besucher pilgern noch heute in Strömen hierher. 

Und so kann es denn niemanden überraschen, dass die Briten den jährlichen Wettbewerb zum Baum des Jahres heiss lieben. Jedermann kann seinen Lieblingsbaum benennen, und der Umweltorganisation Woodland Trust fällt die Aufgabe zu, die Finalisten zu ermitteln. Dieses Jahr sind 200 Bewerbungen auf 23 Finalisten reduziert worden. Die letztendliche Auswahl steht wieder der Öffentlichkeit zu. Der siegreiche Baum jedes der vier «Länder» Grossbritanniens (England, Schottland, Wales und Nordirland) nimmt dann teil am Wettbewerb zum Europäischen Baum des Jahres.

Im Wettbewerb widerspiegelt sich auch Britanniens Leidenschaft für die eigene Sozialgeschichte. Jeder nominierte Baum bringt seine eigene Geschichte mit sich. Und oft ist es mehr diese Geschichte als der Baum selbst, die die Vorstellungskraft der Leute anspricht.

Da gibt es zum Beispiel den «Fahrradbaum», einen uralten Ahorn, der diverse Metallobjekte «verschlungen» hat. Weil hier einst eine Schmiede gestanden hat, geht man davon aus, dass der Baum mitten im Schrott und Abfall emporgewachsen ist. Über die Jahre hin hat er eine ganze Reihe von Gegenständen vereinnahmt – etwa das Zaumzeug eines Pferdes und einen Anker.

Wie er zu seinem Namen gekommen ist, das ist eine ganz besonders rührende Geschichte: Als ein Mann, der hier in der Gegend lebte, in den Ersten Weltkrieg zog, hängte er sein Fahrrad über einen Ast. Der Mann kam nie zurück. So wuchs der Baum um das Fahrrad herum und verschlang es nach und nach. Heute sind nur noch der Lenker und ein Teil des Rahmens zu sehen.

Die Eiche aus dem Wald Macbeths 
Weil die Briten Shakespeare ebenso lieben wie ihre Bäume, ist auch die sogenannte Birnam-Eiche in die engere Wahl gekommen. Die Ortsansässigen behaupten, diese Eiche sei der letzte überlebende Baum aus dem mittelalterlichen Wäldchen, das in Shakespeares Stück «Macbeth» vorkommt. In dem Stück lässt die Hexe Macbeth wissen, dass er so lange König bleiben wird, bis der Wald von Birnam – Birnam Wood – zu seinem Schloss bei Dunsinane marschiert. Die Prophezeiung wird wahr, weil die Angreifer sich mit Zweigen aus dem Wald bedecken und, quasi als Wald getarnt, aufs Schloss vorrücken.

Eine Favoritin ist auch die Bowthorpe-Eiche, die über tausend Jahre alt ist und deren hohler Stamm für Partys genutzt wird: Einmal standen 36 Personen in dem Baum drin. Dann gibt es noch den Original-Bramley-Apfelbaum, der als Mutter aller Bramley-Apfelbäume betrachtet wird. Er soll vor über 200 Jahren gepflanzt worden sein.

Und wer wollte den ersten Preis nicht dem Ding-Dong-Baum gönnen, einer Rotbuche, die auf dem Gelände einer Grundschule steht und die von den dortigen Schulkindern nominiert worden ist? Dieser Baum heisst so, weil die ortsansässigen Kinder ein Spiel erfunden haben, bei dem sie im Wettlauf um den Baum herumrennen, ihn abklatschen und rufen: «Ding Dong».

Die Bäume aber, die jüngst die grösste Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, sind beim Wettbewerb nicht dabei – weil niemand wusste, dass es sie gab. Zwei Wentworth-Ulmen sind just auf den Ländereien des Holyrood-Palastes in Edinburgh, der offiziellen Residenz der Königin in Schottland, entdeckt worden. Dabei hatte man geglaubt, dass keine einzige britische Ulme übrig geblieben sei, als das grosse Ulmen­sterben 75 Millionen Bäume dahinraffte. Die beiden in Holyrood aber haben die Katastrophe überstanden! Sie hätten das Prädikat «Baum des Jahres» auf jeden Fall verdient.