E s ist ein Idyll in Blau und Grün: Oben der Himmel, unten der See, links und rechts Wälder. Das Tuckern der Armiita ist das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht. Gemütlich schippert der charmante Holzkutter aus dem Hafen des Hotels und Blockhausdorfes Järvisydän. Vorbei an zwei jungen Silbermöwen, die am Steilhang eines Inselchens noch etwas unsicher in ihrem grauen, wuscheligen Kinderkleid herumstaksen. Hinaus auf den offenen Saimaa-See.

Wobei: Was heisst schon offen bei diesem grössten See Finnlands, der locker die Kantone St. Gallen, Thurgau, Glarus und die beiden Appenzell bedecken würde? Der Saimaa ist kein kompakter See, sondern ein ausgefranstes Gebilde. Er ist eigentlich eine Ansammlung kleinerer Seen, streckt seine Ärmchen in alle Richtungen, lässt sein Wasser in unzählige Buchten laufen. Und er ist übersät von 14 000 Inseln – wenn man nur jene zählt, die grösser sind als zehn mal zehn Meter.

Am Steuer der Armiita steht Heikki Lukin, ein athletischer Mann mit blauen Augen und braunen Haaren. Er drosselt den Motor und dreht sich um zu den drei Passagieren auf der Rückbank, denen die Junisonne auf den Kopf brennt. «Dort drüben brütet der Fischadler», sagt Lukin – zuerst für den Journalisten auf Englisch, dann für das ältere Ehepaar auf Finnisch. Er zeigt auf ein kleines Inselchen mit ein paar Birken und Föhren. 

Ein Paradies für den Fischadler
Tatsächlich: Auf einer der Föhren ist eine mächtige Ansammlung von dürren Ästen zu erkennen. Die beiden Alttiere haben sich erhoben und kreisen in der Luft – wie um aufzupassen, dass die Menschen da unten nichts Falsches machen. Das tut Lukin natürlich nicht: Er steuert sein Gefährt in gebührendem Abstand an dem Inselchen vorbei. 

Lukin ist der Naturführer des Järvisydän-Resorts und fast täglich unterwegs im Linnansaari-Nationalpark, einem knapp 40 Quadratkilometer grossen Teil des Saimaa. Und er ist stolz auf die hohen Bestände des Fischadlers hier. «Es ist für ihn das vielleicht beste Gebiet weltweit», sagt Lukin. 20 Brutpaare gebe es im Nationalpark. Zahlen, von denen Schweizer Vogelfreunde nur träumen können: Hierzulande ist der Fischadler vor hundert Jahren ausgestorben – nun soll er in einem aufwendigen Projekt wieder angesiedelt werden. 

Doch eigentlich sind nicht die Fischadlerhorste das heutige Ziel der Armiita. Lukin möchte seinen Gästen eine noch viel speziellere See-Bewohnerin zeigen: die Saimaa-Ringelrobbe. Sie kommt einzig im Saimaa vor und ist eine von zwei Unterarten der Ringelrobbe, die nicht im Meer, sondern in einem See leben. Sie musste sich ans Süsswasser anpassen, als nach der letzten Eiszeit, vor ungefähr 8000 Jahren, die Verbindung zwischen dem Saimaa und der Ostsee abriss.

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Wie ein schwarzer Ball: Die Robbe ist im dunklen Wasser gut getarnt.
Bild: Mauritius Images

Noch vor 30 Jahren sah es miserabel aus für die Saimaa-Ringelrobbe. Ende der 1970er-Jahre schätzten Naturschützer ihren Bestand auf gerade einmal 120 Stück. Jäger und Fischer betrachteten sie als Schädling und Konkurrentin und stellten ihr unerbittlich nach. Seither hat sich die Situation langsam, aber stetig verbessert. Momentan gebe es ungefähr 400 Tiere, sagt Heikki Lukin. 

Järvisydän
Die Geschichte des Hotels und Blockhausdorfs Järvisydän reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Der Russische Zar und der Schwedische König schlossen einen Vertrag, wonach es auf der Route zwischen St. Petersburg und Stockholm alle 30 Kilometer ein Gasthaus geben sollte für die Reisenden. Eines dieser Gasthäuser eröffnete die Familie Heiskanen im Jahr 1658. Heute führen Markus Heiskanen und seine Frau Tanja das Resort, das idyllisch in einer Bucht in der Nähe des Dörfchens Rantasalmi liegt.

Faulpelze auf flachen Felsen
Die Schaffung des Linnansaari-Nationalparks trug das Ihre dazu bei. Doch darüber hinaus haben die finnischen Behörden weitere Schutzmassnahmen ergriffen. So ist es im Frühjahr in bestimmten Gebieten des Saimaa verboten, mit Netzen zu fischen. Zu dieser Zeit machen die jungen Robben ihre ersten Schwimmausflüge – und Untersuchungen zeigten, dass bis zu dem Bann jedes zweite Jungtier erstickte, weil es sich in einem Fischernetz verhedderte und nicht mehr zum Luftholen an die Wasseroberfläche gelangte. Wieder wird die Armiita langsamer. Lukin hält leicht links in einen kaum flussbreiten Wasserarm. «Jetzt kommen wir ins Kerngebiet des Nationalparks», sagt er. «Hier sind die Chancen am besten, eine Robbe zu sehen.» In dieser Jahreszeit, erklärt er, sonnten sich die Tiere gerne auf Felsen. Sie wärmen sich auf und trocknen ihren Pelz, der gerade den Fellwechsel durchmacht. «Wir müssen nun alle flachen Felsen in der Sonne absuchen.» Wie auf Kommando zücken die drei Passagiere ihre Feldstecher.

Zu beobachten gibt es genug: Die Inselchen sind im Saimaa überall. Und praktisch von allen verlaufen grosse und kleine, flache und steile Fels­blöcke ins dunkle Wasser. Nicht alle sind grau: Manche schimmern grün, gelb oder braun – von den Flechten auf ihnen. Dort, wo sich schon länger Humus ablagert, ist der Fels überwachsen: mit Moos, Heidelbeeren, Birken, Föhren oder Erlen.

Lukin kurvt nun schier im Schritttempo durch diese zauberhafte Landschaft. Eine einsame Flussseeschwalbe rüttelt in der Luft, auf der Suche nach einem feinen Fisch. Aus einer Bucht erklingt ein melodisches Flöten. «Wunderschön, nicht?», sagt Lukin. «Das ist der Prachttaucher, er hat sein Nest im Seggengürtel dort hinten.»

Wenig später deutet er auf ein bewaldetes Inselchen, dem ein flacher Fels vorgelagert ist. Aufregung an Bord: Ist hier eine Robbe? Nein. Was Lukin zeigen will, ist im Wäldchen versteckt – da steht doch tatsächlich ein kleines Zelt. Das seien keine illegalen Camper, sagt Lukin. «Das ist ein Nistzelt für die Saimaa-Robbe.» Die Robben graben nämlich im Winter ihre Nistmulden in Schneehaufen, die durch den Wind entstanden sind. Dort bringen sie im Februar ihre Jungen zur Welt. Doch auch in Finnland gibt es laut der Naturschutzorganisation WWF immer öfter schneearme Winter. Deshalb haben Freiwillige Zelte aufgebaut, welche die Robben laut Lukin tatsächlich als «Nisthöhlen» annehmen.

Ein Volk von Sommerhaus-Besitzern
Jetzt, im Sommer, stehen die Robbenzelte allerdings leer – und ein lebendiges Tier ist weit und breit nicht in Sicht. Als Aufmunterung serviert Lukin seinen Gästen eine Tasse Kaffee und Brötchen. Und er erzählt über den Nationalpark. Seit 1956 ist der Linnansaari ein Naturschutzgebiet – mit ein paar andern der älteste der heute 40 Nationalparks des Landes. Menschenleer ist er nicht. Da und dort leuchtet zwischen den Bäumchen auf einer Insel ein rotes Häuschen hervor. Es sind Mökkis, die typischen Holzhäuschen, in denen die Finnen ihre Sommerferien verbringen. «Neue Mökkis dürfen im Nationalpark nicht gebaut werden», erklärt Lukin, «aber die alten werden geduldet, solange sie noch stehen.»

Ausserhalb des Nationalparks steht ein solches Mökki praktisch auf jedem Inselchen, auf dem man mehr als ein paar Schritte machen kann. Auf der Insel Kaarnetsaari – gut zwei Kilometer von Järvisydän entfernt – hatte die Kirche der Gemeinde Rantasalmi gar ein Sommercamp für die Konfirmanden eingerichtet. Das imposante Langhaus, mehrere Wohnhäuschen, Saunen und Spielplätze zeugen davon. 

Heute allerdings nutzt das Järvisydän-Resort Kaarnetsaari als Ziel von Holzlangboot-Touren. Wer sich dafür anmeldet, wird belohnt mit einem Einblick in die traditionelle finnische Sommerhaus-Kultur. Die ungefähr zwölf Hektar grosse Insel lässt sich bequem zu Fuss umrunden und danach warten Kaffee, Schafswürstchen und dicke Omeletten auf die Gäste – alles auf dem Feuer gekocht und gebraten. So wie das Leben halt war und oft noch ist in den Sommerhäuschen: Viele haben keinen Strom – und gerade auf Inselchen gibt es statt fliessend Wasser oft nur einen Ziehbrunnen.

Ausgetrickst von der Robbe
Auf der Armiita sind inzwischen die Mägen voll und die Robbensuche geht weiter. Nach wenigen Minuten macht Lukin eine Handbewegung. «Norppa», sagt er leise. Das finnische Wort für Robbe. Er schaltet den Motor aus und zeigt nach vorne. Dort, vielleicht zwei-, dreihundert Meter vom Schiff entfernt, bewegt sich etwas, das aussieht wie ein schwarzer Ball. Ein paar Sekunden nur ist der Kopf der Ringelrobbe zu sehen, dann taucht sie ab.

Lukin nimmt es cool. Er klettert aufs Dach seiner Kabine und wartet. Die Minuten verstreichen. «Die Saimaarobbe kann bis zu 20 Minuten lang unter Wasser bleiben», erklärt er und schaut auf die Uhr. «Jetzt sinds zwölf Minuten.» Sagts und deutet hinter seine Gäste. Dort ist die Robbe aufgetaucht. Wieder so weit weg, dass sie nur durch den Feldstecher gut zu erkennen ist. Und wieder nur kurz. «Versuchen wir etwas näher heranzukommen», sagt Lukin und fährt ganz langsam so um den letzten Robbenstandort herum, dass die Strömung die Armiita nachher in die Nähe treiben sollte. Erneut ist Warten angesagt. Tatsächlich taucht die Robbe nach einigen Minuten auf – aber wieder in sicherem Abstand zu den neugierigen Besuchern. «Sie gibt sich scheu», sagt Lukin.

Das sei nicht immer so, erzählt er, und zückt sein Smartphone. Vor zwei Wochen sei er mit einer Gruppe unterwegs gewesen und habe hier ganz in der Nähe eine junge Robbe gesehen, vielleicht dieselbe wie heute. «Sie kam bis ans Boot.» Dann zeigt er ein Video, auf dem eine Robbe neugierig mit einer Boje spielt, die an einer Bootsseite ins Wasser hängt. «Sie wollte nicht mehr aufhören», sagt Lukin, «nach einer Viertelstunde musste ich sagen: Tschüss, liebe Robbe, wir müssen leider zurück.»

Auch heute ist es Zeit, Tschüss zu sagen. Wieder lenkt Lukin die Armiita durch ein Gewirr von Wasserläufen, zwischen Dutzenden Inseln und Inselchen hindurch, vorbei an einem weiteren Fischadlerhorst. Bis der Kutter plötzlich in den Hafen einläuft. Vorbei am lauschigen Spa und den Saunas des Hotels, in Richtung Hauptgebäude, wo im rustikalen Restaurant bereits ein Buffet bereitsteht. Natürlich mit einer Fischauswahl, an der auch Robben und Fischadler ihre Freude hätten.

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