Alles Leben auf der Erde wird traditionellerweise in drei Domänen eingeteilt: Bakterien, Archaebakterien und Eukaryoten. Zu letzteren gehören alle Lebewesen, die keine Bakterien sind, also sämtliche Pflanzen, Pilze, Tiere und Einzeller. Sie unterscheiden sich von den Bakterien und den Archaebakterien dadurch, dass ihre DNA in einem Zellkern eingeschlossen ist.

Im Gegensatz dazu lassen sich die Viren in keine solche Domäne einteilen. Und das ist nach Ansicht der meisten Wissenschaftler auch richtig so, denn Viren erfüllen ihrer Meinung nach die Hauptvorsaussetzung nicht, um in die Klassifizierung aufgenommen zu werden: Sie haben keinen eigenen Stoffwechsel und sind deshalb keine Lebewesen.

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Um das zu verstehen, muss man sich in die Zelle begeben und sich ihre Bestandteile genauer anschauen. Damit sich eine Zelle als «lebend» qualifiziert, muss sie sich selbst vermehren können. Dazu braucht sie eine Maschinerie, die den genetischen Code auf der DNA multiplizieren kann. Zudem muss sie die im Code enthaltene Information lesen und in Proteine umwandeln können, die in der Zelle verschiedene Funktionen erfüllen und zum Beispiel auch bei der Zellteilung helfen.

Ein Virus kann das alles nicht. Es besteht lediglich aus einer Hülle mit ein bisschen genetischem Code drin. Solange ein Viruspartikel nicht mit einer Wirtszelle in Kontakt kommt, bleibt es inaktiv. Ausserhalb der Zelle ist das Partikel vielen Umwelteinflüssen ausgesetzt. «Es kann mechanisch oder chemisch beschädigt werden so dass seine Schutzhülle zerstört wird», erklärt Cornel Fraefel, Leiter des Virologischen Instituts der Universität Zürich. «Damit gehen die Proteine und Strukturen kaputt, die dem Virus den Eintritt in die Zelle ermöglichen.» Resultat: Das Virus ist nun unschädlich gemacht worden. Wie lange Viren ausserhalb der Zelle infektiös sind, sei sehr unterschiedlich, sagt Fraefel. «Es kann sich um Minuten bis Monate handeln.»

Neuer Wirt, neue Krankheit
Um sich also zu vermehren, muss ein Virus sich zwingend in eine Wirtszelle einschleusen und deren Maschinerie nutzen. Die Maschinerie der Wirtszelle liest den Code des Virus und produziert so neue Viren, die aus der Zelle wieder austreten. Damit dies geschehen kann, wird die Zelle oft zerstört. Der Wirt wird krank. «Viren verfolgen dabei verschiedene Strategien», sagt Fraefel. «Ist die Wirtspopulation gross und wird das Virus schnell vermehrt, kann es in Kauf nehmen, dass der Wirt manchmal stirbt. Das Virus verbreitet sich trotzdem weiter.» Das Ziel sei jedoch nicht, den Wirt umzubringen, sondern eine Koexistenz zu etablieren.

Das geschehe mit der Zeit mit jeder neuen Viruskrankheit. Eine solche tritt immer dann auf, wenn ein Virus auf einen neuen Wirt übergeht, also beispielsweise von Tier zu Mensch. Die Coronaviren SARS und MERS kamen ursprünglich in Fledermäusen vor (siehe Box), HIV in Schimpansen. Das Immunsystem des neuen Wirts muss sich dann erstmal auf den neuen Erreger einstellen. Mit der Zeit gelingt ihm das, es erinnert sich und passt sich an. Gleichzeitig passt sich auch das Virus an, es etabliert zum Beispiel eine latente Infektion oder vergrössert die Zeitspanne einer latenten Infektion. Das sei auch bei HIV und dem Menschen der Fall gewesen, sagt Fraefel. Der Virologe vermutet, dass eine solche gegenseitige Anpassung zwischen Virus und Wirt auch beim neuen Coronaviren erfolgen wird.

Da sie das Immunsystem zum Handeln zwingen, nehmen Viren eine wichtige Rolle in der Evolution ein. «Wir haben vorallem auch dank der Viren so ein starkes Immunsystem», sagt Fraefel. Über die Gefährlichkeit des neuen Coronavirus aus China kann Fraefel noch nicht viel sagen. Er vermutet aber, dass andere Virus-Krankheiten weltweit viel mehr Tote fordern.

CoronavirenDie Coronaviren sind eine Familie von Viren, die verschiedene Wirbeltiere befallen und gelegentlich auch Artgrenzen überwinden können. Bei Menschen lösen sie typischerweise meist leichte und in seltenen Fällen schwere Lungeninfektionen aus. Zu diesen gehören SARS (Severe acute respiratory syndrome), das 2002 in China zum ersten Mal auftauchte und von einem bis damals unbekannten Coronavirus ausgelöst wird, und das seit 2012 auf der Arabischen Halbinsel bekannte MERS (Middle East respiratory syndrome). Die beiden Viren stammten ursprünglich aus Fledermäusen. Über das sich derzeit in China ausbreitende, neue Coronavirus ist noch wenig bekannt. Woher es kam, ist noch nicht klar, es werden aber ebenfalls Fledermäuse vermutet. Das Virus scheint SARS ähnlich zu sein, erhielt von der Weltgesundheitsorganisation WHO erst vorläufigen Namen 2019-nCoV (2019 neuartiges Coronavirus) und später den offiziellen Namen SARS-CoV-2. Die von ihm ausgelöste Krankheit heisst COVID-19 (Coronavirs-Krankheit 2019).

Oder leben sie etwa doch?
Dass Viren tatsächlich keine Lebewesen sind, davon sind einige Forscher nicht ganz so überzeugt. So schrieb zum Beispiel David Bhella, Professor für strukturelle Virologie an der Universität Glasgow 2016 im Fachmagazin «Microbiology Today», dass kein Organismus komplett autark sei. Jedes Lebewesen hänge in irgendeiner Form von einem anderen ab – auch der Mensch. Ohne die Stoffwechselprodukte von Pflanzen könnten wir nicht existieren. «Wenn ein Viruspartikel biologisch inaktiv oder ‹tot› ist, in gleicher Weise wie eine bakterielle Spore oder ein Pflanzensamen, dann glaube ich, dass Viren ausgesprochen lebendig sind, sobald sie in die richtige Umgebung kommen», schrieb Bhella.

Viren haben zudem die Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln, zu evolvieren. Sie lassen sich klassifizieren und in Ordnungen und Familien einteilen wie die «echten» Lebewesen – und sie treiben als Krankheitserreger auch deren Evolution voran. Woher sie kommen, ist nicht restlos geklärt. Neue Erkenntnisse lassen die Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben aber zusehends verschwimmen. Laut Forschern der Universität Illinois stammen Viren nämlich von voll funktionstüchtigen Zellen ab und haben ihre Stoffwechsel-Maschinerie im Laufe der Jahrmillionen verloren, weil sie dafür keinen Nutzen mehr hatten. «Wir müssen unsere Definition von Leben erweitern», forderten Arshan Nasir und Gustavo Caetano-Anollés 2015 in «Science Advances». Ob sie nun leben oder nicht – ohne Viren wäre das Leben auf der Erde wohl nicht so, wie wir es heute kennen.