Bergbauernbetrieb
Gemeinsam zum Grauviehglück
Ein Bergbauernbetrieb hoch über dem Rontal hat die solidarische Landwirtschaft im Nutzviehbereich initiiert – mit grossem Erfolg. Wie Marlen und Stephan Koch gemeinsammit ihren zahlreichen Patinnen und Paten zu mehr Rinderwohl beitragen.
Oben auf der Hügelkuppe steht Eros und blickt versonnen in die Reussebene hinunter. Der stattliche Ochse lässt sich die wärmende Herbstsonne auf das graue Fell scheinen und geniesst den grandiosen Weitblick, der sich von der Obermettlen eröffnet. «Es ist typisch für Eros, dass er sich manchmal in seinen Gedanken verliert, in seine eigene Welt eintaucht und alles um sich herum vergisst», sagt Stephan Koch schmunzelnd. Bereits als Kalb sei Eros speziell gewesen – bis zu seinem 17. Lebensmonat hätte er sich mit keinen Mitteln davon abhalten lassen, bei seiner Mutter Milch zu saugen. Vielfach gibt die Mutterkuh ihrem Kalb nach einem Jahr keine Milch mehr.
Einige Schritte weiter hinten wartet Eros’ Mutter Evita mit neugierigem Blick auf die Besucher. Sie hat ihr jüngstes Kälbchen Elvis bei Fuss. «Dass uns Evita freudig empfängt und geradezu auf unsere Streicheleinheiten wartet, das wäre noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen», erklärt Marlen Koch. Gemeinsam mit ihrem Partner führt sie den Hof Obermettlen, der sich auf rund 620 Metern Höhe in die Flanken des Rooter Bergs (LU) schmiegt. Als Evita im Mai 2022 auf den Bergbauernhof kam, hatte sie bereits 14 Jahre auf dem Buckel und sei unnahbar, ja sogar richtig angriffig gewesen. Mit den feinen Äpfeln, die an den Hochstamm-obstbäumen wachsen und viel Vertrauensarbeit hätten sie die Rätische Grauviehkuh dann geknackt, erzählt die studierte Agronomin nicht ohne Stolz.
Ihre Tonlage verdunkelt sich allerdings, als sie über die schwierige Geburt von Elvis berichtet, der schliesslich per Kaiserschnitt auf die Welt geholt werden musste. Und Evitas Narbe, die immer und immer wieder aufging. Das sei ein belastendes Erlebnis gewesen, sowohl emotional als auch finanziell, gibt das Ehepaar zu. Doch gerade in diesen schweren Tagen habe sich gezeigt, wie stark sie auf die enge Verbundenheit zu ihren Tieren und die Unterstützung von ihrem Netzwerk zählen dürfen. «Ohne jeglichen Aufruf standen sofort drei unserer Paten vor der Tür und boten an, die Tierarztkosten zu übernehmen», sagt Stephan Koch.
Alten Kühen das Weiterleben schenken
Hinter der 15-köpfigen Grauviehherde stehen nicht weniger als 160 Patinnen und Paten. Mit dem Projekt Herbstzeitlose stürzten sich die Kochs 2019 in das Abenteuer der solidarischen Landwirtschaft. Nicht imGemüsebau, wo bereits einige Solawi-Projekte bekannt sind, sondern im Bereich der Nutztierhaltung. «Die konventionelle Nutztierhaltung und -zucht fühlte sich für uns nicht mehr stimmig an und zudem war unser Ziel, vom Hof leben zu können», erklärt Marlen Koch, wie das Projekt ins Rollen kam. Auf dem Hof mit 6,5 Hektaren landwirtschaftlicher Nutzfläche in steiler Hanglage, den sie in dritter Generation führen, hielten sie davor im Nebenerwerb Aufzuchtrinder.
Dann entschlossen sie sich, Mutterkühen der alten heimischen Rasse Rätisches Grauvieh, die aufgrund ihres Alters auf den Zuchtbetrieben aussortiert wurden, ein zweites Leben zu schenken. Die Idee besteht darin, dass jedes neugeborene Kalb acht Paten erhält, die während zweier Jahre täglich einen Franken zahlen und dafür ihren Anteil am Herbstzeitlosen-Fleisch erhalten und einen Einblick in den Alltag auf der Obermettlen bekommen.
Während das Konzept bei Landwirten eher Skepsis auslöste, stiess es bei Konsumenten aus fast der gesamten deutschsprachigen Schweiz rasch auf Interesse. Sie sei bei einem Anlass der Rooter Pfarrei zum Thema Nachhaltigkeit auf das Herbstzeitlose-Projekt aufmerksam geworden, sagt Cornelia Casutt. Mittlerweile hat die fünfköpfige Familie bei Eros bereits die zweitePatenschaft übernommen. «Marlens und Stephans Mut haben uns beeindruckt und die Möglichkeit, unsere Kinder bewussten Fleischkonsum erfahren zu lassen, fanden wir grossartig», sagt die Familienfrau.
Eros hätten sie gleich nach der Geburt beim Willkommensapéro besucht und sich bekannt gemacht. Wenn möglich würden sie als Familie an den Bauerhoftagen mithelfen und auch zu kulinarischen Anlässen stiegen sie immer mal wieder zu Eros auf die Obermett-len hoch, erzählt Cornelia Casutt.
Austausch auf Augenhöhe
Jeder Pate und jede Patin könne so viel Engagement einbringen, wie es möglich ist, sagen Marlen und Stephan Koch. Eine verpflichtende Mithilfe an den jährlich fünf Bauernhoftagen, an denen gezäunt und die Weide gepflegt, aber auch gemütlich gemeinsam ein Zvieri genommen wird, gibt es nicht. Am letzten Hoftag waren 33 Paten auf der Obermettlen am Werken und es hätten sich wunderbare Gespräche zwischen ihnen als Produzenten und ihren Paten aus allen Bevölkerungsschichten als Konsumenten ergeben. «So gelingt es, auf Augenhöhe zugänglich zu machen, was Landwirtschaft bedeutet, und unsere Arbeit wird sichtbar», erklärt Marlen Koch.
Man muss aber nicht Pate von einem der Grauviehrinder sein, um den paradiesisch schönen Flecken Erde besuchen zu dürfen. Während der warmen Jahreszeit organisieren die Kochs zahlreiche Events, an denen Burger aus dem Herbstzeitlosen-Fleisch grilliert werden und auf einer Führung der Hof entdeckt werden kann. «Diesen Sommer haben wir gut 1000 Burger serviert und an die 700 Personen über unseren Hofgeführt», so Stephan Koch.
Vom Horn bis zum Herz
Es werden allerdings nicht nur Burger aus dem Fleisch der Obermettler Rinder hergestellt. Regelmässig finden auch Innereien-Grillkurse statt. Was da noch übrig bleibt, darf der dreibeinige Kater Merlin verköstigen. Es sei ihnen ein grosses Anliegen, möglichst alles vom Schlachtkörper zu verwerten, sagt das innovative Paar. Beim Fleisch hört dieser ganzheitliche Ansatz noch lange nicht auf. «Sobald es regnet, dürfen wir wieder ins Atelier», frohlockt Marlen Koch. Dort stellen sie dann aus dem Leder Gürtel her, verzieren die mächtigen Rinderschädel mit filigranen Lochmustern und kreieren Serviettenringe aus den Knochen und dem Leder. Bei jedem Produkt ist klar ersichtlich, ob es von Jo, Falco oder Venus stammt. Der persönliche Bezug, den die Obermettler zu jedem einzelnen Tier pflegen, geht weit über den Tod hinaus.
Demnächst wird eine Gruppe von Designstudierenden der Hochschule für Gestaltung in Luzern auf den Hof kommen, um noch weitere Verwendungsideen auszutüfteln. In Kreisläufen und über den eigenenTellerrand hinaus studieren, das zeichnet die Obermettler aus. Sogar von den Kleinsten nehmen die Landwirte gerne Inputs auf. «Kinder stellen nämlich oft die besten Fragen, die uns erlauben, eine andere Perspektive einzunehmen und Gewohnheiten zu überdenken», sagt Marlen Koch.
Tierwohl bis in den Tod
Ihre Tiere, mit denen sie eine so enge Bindung pflegen, auf den letzten Schritten in einem Schlachthof aus den Händen zu lassen, kommt für Marlen und Stephan Koch nicht infrage. Für sie ist nur das Konzept der stressfreien Hoftötung stimmig. Bald hat auch Eros das Schlachtalter von zwei Jahren erreicht.
Zuvor wird er mit viel Geduld an das Setting der Hoftötung gewöhnt. Erst wenn sich ein Tier freiwillig auf den eingezäunten Bereich vor dem Stall begibt und dort ruhig frisst, ist es für diese Art der Tötung bereit. «Für uns darf bis zum Ende kein Leid auf dem Tier sein», sagen Marlen und Stephan Koch, die immer beim Tier sind, wenn der Metzger vorfährt. Die Paten allerdings sind in dieser intimen Stunde nicht auf den Hof eingeladen. Sie haben nachher die Möglichkeit, ein Video der Hoftötung anzusehen.
«Von den Paten braucht es Mut, eine persönliche Bindung zu dem Tier einzugehen, dessen Fleisch man später essen wird, sich diesem Thema so unmittelbar zu stellen», sagt Marlen Koch anerkennend. Einige ihrer Kunden hätten nach der ersten Patenschaft bemerkt, dass es für sie nicht mehr vereinbar ist, Fleisch zu essen, und seien Vegetarier geworden. Andererseits hätten sie auch Paten, die ansonsten vegetarisch leben und für die es nur unter diesen Umständen vertretbar ist, Fleisch zu essen. «Als wir das erste Mal Fleisch vom Patentier Zorro zubereiteten, waren wir unsicher, ob die Kinder es essen würden. Obwohl wir wiederholt über das Thema sprachen, war der Gedanke, Fleisch von Zorro zu konsumieren, nicht einfach. Wie sich dann aber zeigte, schmeckte unseren Kindern das Zorro-Fleisch besser als anderes», erzählt Cornelia Casutt.
¨An Paten jedenfalls mangelt es nicht, sogar eine Warteliste wird geführt. Vergrössern möchten sich Marlen und Stephan Koch trotz dieses Erfolgs allerdings nicht: «Sonst hätten wir nicht mehr genügend Zeit für unsere Tiere, unsere Paten und auch für uns selbst», sagen sie. Ihre Zukunftsvision besteht darin, andere Landwirte, die auch einen neuen Weg einschlagen möchten, zu inspirieren und mit ihren Erfahrungen die Umsetzung ähnlicher Projekte zu erleichtern. «Wir hatten keinerlei Vorbilder, umso schöner ist es doch, wenn wir über die sozialen Medien oder den persönlichen Austausch zu einer tiergerechteren Landwirtschaft hinführen können», sagen die beiden und nehmen den steilen Abstieg von Eros’ Weide hinunter auf den Hof unter die Füsse.
Hornkuh-Patenschaft
Die Fleisch-Patenschaften auf ihren Rätischen Grauvieh-rindern sind bereits gut gebucht, man kann sich aber auf die Warteliste setzen lassen. Zudem gibt es auch die Möglichkeit, eine Hornkuh-Patenschaft abzuschliessen und damit den Obermettler Rindern ein schönes Leben zu ermöglichen undein Teil des innovativen Landwirtschaftsprojekts zu werden.
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