Weit oben auf einer Wiese inmitten einer Waldlichtung stehen Schafe beieinander und schauen in Richtung Kühe auf der Weide nebenan. Sie machen keine Anstalten, näherzukommen. Also muss Border Collie Lara dafür sorgen, dass die Schafe in Richtung Menschen wetzen – mit wehenden Haaren. Denn es handelt sich um Merinos, diese für ihre flauschige Wolle berühmten Tiere. Diesen Winter sind kuschelig warme und weiche Pullover oder Strickjacken aus Merinowolle ein Modetrend.

Und wer auf lokale Produktion setzt, wärmt Kopf und Hals mit einer Mütze und einem Schal aus der Wolle der Merinoschafe, die Lara den Abhang hinabtreibt. Kurz darauf stehen sie vor uns, einen Respektsabstand haltend. «Sie sind schüchterner als andere Rassen», sagt Alexander Grädel über seine Merinos. Wenn sie ihn sehen, nehmen sie Reissaus. Er sei der «bad guy», sagt der Landwirt lachend, der ihnen die Klauen schneide und sie entwurme.

Von Spanien nach Deutschland

Grädel muss es wissen: Auf den Weiden rund um die familieneigene Schaukarderei und Biohof «Spycher Handwerk» im oberaargauischen Huttwil, wo sich alles um die Wolle dreht, grasen die Rassen Engadiner-, Gotland-, Spiegel-, Jakob- und Zackelschafe, Walliser Landschafe und seit 2017 Merinofeinwollschafe. Als einzige Schweizer Herde sind die Wollknäuel, die beim Besuch kurz vor der Schur standen, echte Exoten.

Weltweit aber gibt es unzählige Millionen Merinos. Die Rasse stammt ursprünglich aus dem Nahen Osten oder aus Nordafrika, so genau weiss man es nicht. Da es in Marokko Schafe gibt, die ähnlich aussehen, vermuten spanische Historiker, dass Vieh züchtende Berber ihre Tiere im 12. Jahrhundert auf die Iberische Halbinsel mitnahmen. Die Dynastie hiess Meriniden, woher wohl auch der Name Merino kommt.

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Erstmals schriftlich belegt ist dieser in einem Kaufvertrag von 1307: Kaufmänner aus Genua erwarben 29 Säcke Wolle, die «merinus» genannt werde, hiess es dort. In Spanien, vor allem im mittelalterlichen Königreich Kastilien, waren die Schafe schnell sehr beliebt und ihre Wolle eine lukrative Handelsware. Beides war international begehrt, die Schäfer allerdings wachten darüber, dass diese Schafe nicht exportiert wurden.

Die Krone stellte die Ausfuhr damals sogar unter Todesstrafe – mit der Folge, dass Spanien bis ins 18. Jahrhundert das Monopol auf Merinowolle hatte. Den Bann brach König Karl III., als er seinem Cousin, dem sächsischen Kurfürsten Xaver, 229 Schafe überliess, um dessen nach dem Siebenjährigen Krieg darniederliegende Schäferei wieder aufzubauen. Nach einer Schiffspassage von Cádiz nach Hamburg und einem 600 Kilometer langen Fussmarsch kamen die Vierbeiner im Juni 1765 in Sachsen an.

Australischer Exportschlager

Hier begann die professionelle europäische Zucht, die im Laufe der Jahrzehnte aber auch den Werteverlust der Wolle bedeutete. Das Fleisch wurde in Krisenzeiten immer wichtiger. Die fleischbetonten Schafe wurden vielerorts in lokale Schläge eingekreuzt; es entstanden Rassen wie das Merinolandschaf und das Merinofleischschaf. Auf die Wollproduktion setzten dagegen die Nachfahren der Siedler, die 1797 mit ihren Merinos in Australien ankamen.

Sie entwickelten verschiedene Merinoschläge, die je nach Wolldicke von Ultrafine und Superfine bis zu Strong klassifiziert werden. Bald war die Wolle der Exportschlager Australiens schlechthin. Längst ist die Marktmacht des Landes mit 75 Prozent bei der Wolle allgemein und 90 Prozent bei der feinen Merinowolle für die globale Bekleidungsindustrie erdrückend. Die Produktion ist wegen der Mulesing-Methode aber auch umstritten (siehe Box).

In Down Under leben Merinos in trockenheissen Gebieten – mit einer Ausnahme. Das «Saxon Merino», dessen Bezeichnung auf seine sächsische Abstammung hinweist, kommt einzig in den regenreichen und kühleren Gegenden Südaustraliens und Tasmaniens vor. Von hier kam es zurück nach Europa. Im englischen Devon züchtet Lesley Prior seit über 20 Jahren Saxon-Merinos für das europäische Wetter und Klima. Mit Erfolg: Die Schafe liefern eine Superfine-Wolle mit einem Durchmesser von 16,5 bis 18,4 Mikron.

Umstrittenes Mulesing
In Neuseeland, der Nummer zwei auf dem Merinowolle-Weltmarkt, ist Mulesing seit 2018 verboten. Im Gegensatz dazu halten viele australische Farmer daran fest: Bei der umstrittenen Methode befestigen sie ihre zwei bis zehn Wochen alten Lämmer in Metallgestellen und schneiden ihnen bei vollem Bewusstsein am Hintern Hautstücke heraus. Die Tiere müssen diese Qualen erleiden, weil Merinoschafe früher auf möglichst viele Hautfalten gezüchtet wurden, um noch mehr Wolle zu generieren. Dies macht sie besonders anfällig für die Fliegenmadenkrankheit Myiasis, die zu Infektionen und zum Tod der Schafe führen kann.

In Australien stellen sich viele auf den Standpunkt, Mulesing sei zum Wohl der Tiere. Es braucht Zeit, bis sich der neue Zuchtstandard mit keinen oder wenigen Hautfalten überall durchsetzt. Bedeutende Player halten an der im Land legalen Praxis fest, obwohl sie Umsatzeinbrüche erlitten, nachdem Tierschutzorganisationen wie «Vier Pfoten» Mulesing auf ihre Agenda setzten.

Englische Sachsen für die Schweiz

Solche sächsischen Merinoschafe aus England weiden seit fünf Jahren auch in der Schweiz. «Swiss Merino Superfino» heisst das Projekt, das Alexander Grädel gemeinsam mit Cecile Aschwanden realisiert. Der Landwirt und die Risikomanagerin aus Schindellegi im Kanton Schwyz besitzen beide auch Kaschmirziegen und kennen sich aus dem Verein «Alpine Cashmere Association», dessen Präsident Grädel ist.

Am Anfang stand sein Vater Hansueli Grädel, erzählt Cecile Aschwanden, die ihre ersten Ziegen in Devon gekauft hatte: «Er wusste von Lesley Priors Merinoschafen und fragte mich, ob ich nicht mal anfragen könne, ob sie uns ein paar abgebe.» Was die Engländerin dann auch tat. 2017 kamen zwölf Auen und drei Böcke in der Schweiz an und zogen nach einem Monat Quarantäne im Kanton Zürich zum Spycher Handwerk.

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Seither ist der Trupp auf über 160 Tiere angewachsen. Der Grossteil der Herde, über 130 Tiere, weidet bei einem Demeter-Betrieb am Mont Soleil nördlich von St-Imier im Kanton Bern. Im Emmental hält Grädel eine Zuchtgruppe mit einem Bock und sieben Auen. Und in Huttwil leben ein Bock, elf erwachsene Auen und ihre 15-köpfige Nachzucht. Die Schafe liefern leuchtend weisse Wolle, mit 17,8 Mikron ausgewiesen und demzufolge «superfine».

Lehrmeinung widerlegt

Die Experten von Agroscope, der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt des Bundes, vertraten lange die Lehrmeinung, hierzulande sei keine solche erstklassige Merinowolle zu gewinnen, sondern dass sie wegen des Wetters verfilze. Dies hätten sie widerlegt, sagen Grädel und Aschwanden übereinstimmend. «Die Genetik der Tiere ist viel wichtiger», ist Grädel überzeugt, «auch wenn das Futter und die Haltung einen gewissen Einfluss haben.»

Er halte die Saxon-Merinos grundsätzlich gleich wie alle seine anderen Schafe. Ein trockener und warmer Sommer wie der diesjährige sei sehr gut für alle Rassen. Denn: «Nässe geht auf die Wolle.» Bei andauernder Feuchtigkeit braucht das dichte Merino-Vlies länger, bis es trocknet, und ein Teil des acht bis neun Zentimeter langen Haares wird laut Grädel grünlich, aber verfilzen würde es nicht.

Im Sommer sind alle Schafe Grädels draussen auf der Weide, wo ein Unterstand sie gegen Regen schützt. Einzig im Winter leben die Merinos meist drinnen. Die Böcke werden jeweils Anfang November geschoren, bei den Auen zögere er es näher an das Lammen ab Februar hinaus. «Scheren wir zu früh im Herbst, wächst das Haar bis zur Geburt auf zwei, drei Zentimeter heran. Beim Lammen stoppt das Wachstum, weil die ganze Energie in die Geburt und in die Milchproduktion geht», erklärt Grädel.

Wenn es danach weiterwachse, gebe es eine Schwachstelle in der Wolle. Dies sei ein Problem bei der Verarbeitung. Nach Tests mit verschiedenen Schurzeiten habe sich das Scheren im Dezember und Januar als ideal erwiesen, zumal die erste Schur für die Jungtiere dann anstehe, wenn sie fast ein Jahr alt seien. Erledigt wird das von Profischerer Rolf Grossenbacher.

«Da die Wolle feiner ist als bei anderen Schafen, kann er nicht einfach durchrattern», erklärt Grädel, warum das Scheren bei Merinos einiges aufwendiger und damit auch teurer ist. Was auch die Produkte nicht billig macht. Drei bis vier Kilogramm Wolle gibt es pro Schaf, davon sind drei richtig schön, wie Alexander Grädel sagt. «Wie bei allem, können wir Schweizer mit unseren Löhnen und Produktionskosten nicht mit dem Weltmarkt mithalten.»

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Kleine Mengen wie die zirka 150 Kilogramm der Herde «Swiss Merino Superfino» machen die Produkte noch teurer. Eine mittlere australische Industriecharge besteht aus zwölf Tonnen. «Aber wir haben unsere eigene Geschichte zu erzählen», betont Grädel. Dazu gehört, dass jeder Betrieb der Verarbeitungskette vom Leben der Schafe bis zur roten Mütze und zum schwarzen Schal biologisch respektive ökologisch arbeitet.

Der Weg der Wolle zum Produkt

Der Landwirt und die Risikomanagerin haben sich die Aufgaben aufgeteilt: Grädel ist für die Haltung der Schafe und das Handling der Wolle zuständig, Aschwanden organisiert den Import der Tiere, die Zuchtplanung und die Verarbeitung der Wolle. Diese wird nach der Schur bei Spycher Handwerk sortiert und gepresst und geht nach Italien, wo die Firma Pettinatura di Verrone sie wäscht und kämmt. Bei Schöller in Österreich wird sie in einem ökologischen Verfahren maschinenwaschbar gemacht. Zurück in der Schweiz, verspinnt die letzte Kammgarnspinnerei hierzulande, Flasa im Jura, die Wolle. Danach wird sie bei Johann Müller Textil in Strengelbach AG gefärbt und schliesslich bei der Textil AG in Huttwil und von «Herr Urs» in Turgi AG gestrickt.

Noch ist das Sortiment klein, aber fein. «Unter den aktuellen Umständen, in denen Regionalität wichtiger geworden ist, wäre es nicht schwer, das Projekt Swiss Merino Superfino auszubauen», erklärt Alexander Grädel zu seiner Zukunftsvision. Um potenziellen neuen Merinoschafhaltern aber etwas bieten zu können, müssten sie weitere Absatzkanäle für die Wolle finden. Denn es gelte, ein hochpreisiges Produkt unter die Menschen zu bringen. «Es wäre schön, mehr Wolle zu produzieren und das Sortiment zu vergrössern, sodass es sich auch finanziell lohnt», ergänzt Cecile Aschwanden abschliessend.

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