Aufblühen auf dem Land
Wohn- und Betreuungsangebote auf dem Bauernhof
Das Leben in der Natur, umgeben von Tieren, gibt Boden unter den Füssen. Davon profitieren Personen mit einer Beeinträchtigung oder in einer Krise. Die gemeinnützige AG Wohn- und Betreuungsangebote in Familien, kurz WoBe AG, ermöglicht solchen Personen, auf einem Landwirtschaftsbetrieb zu leben.
Das naturnahe Leben auf dem Land gefalle ihr gut, sagt Conny. «In einer Stadt zu wohnen, etwa in Bern, könnte ich mir nicht vorstellen – es sei denn, es handelt sich um New York.» Momentan ist aber nicht New York das Zuhause der Frau mit psychischen Schwierigkeiten, sondern der Bauernhof der Familie Vonwiller im bernischen Burgistein. Als sich Conny, die nur mit ihrem Vornamen genannt werden möchte, wegen einer persönlichen Krise in der psychiatrischen Klinik aufhielt, wurde ihr das Angebot der WoBe AG als mögliche Anschlusslösung vorgestellt. Die WoBe organisiert und begleitet Wohn- und Betreuungsangebote auf landwirtschaftlichen Betrieben. Die Idee, die hinter diesem Angebot steckt, das 1998 von der Ökonomischen Gemeinnützigen Gesellschaft Bern initiiert wurde, verbindet landwirtschaftliche mit sozialen Aspekten. «Unser Ansatz ist die Gesundung durch das Leben im ländlichen Raum mit Zugang zu Tieren und der Natur», erklärt die Geschäftsführerin Priska Fleischlin.
Der Alltag in der Gastfamilie Vonwiller habe ihr tatsächlich wieder Boden unter den Füssen und eine Struktur gegeben, sagt Conny. Als sie noch allein wohnte, sei sie oft direkt nach dem Frühstück wieder ins Bett geschlüpft. Bei der Gastfamilie in Burgistein hilft sie mit der Wäsche, füttert die Kaninchen und kocht oft gemeinsam mit Catherine Vonwiller. Die Mahlzeiten werden immer gemeinsam mit der ganzen Familie eingenommen. Auch wenn Conny kein riesiger Fan von Hoftieren und der Stallarbeit ist, hat sie sich zur Social-Media-Managerin des rund 10 Hektaren umfassenden Hofes mit Milchschafen, Obst-, Acker- und Gemüsebau gemausert. «Die Videos der süssen kleinen Lämmchen werden auf Tiktok sehr gerne angesehen», weiss Conny. An drei Morgen pro Woche hilft die 55-Jährige zudem im Schlossgarten Riggisberg mit.
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Profitieren von dieser Wohnsituation im ländlichen Umfeld kann aber nicht nur der Gast. «Conny hat es sehr gerne ordentlich und räumt oft meine Unordnung weg, das Chaos in der Küche überbordet niemals mehr wie früher», sagt Catherine Vonwiller schmunzelnd. Das Zuhause für eine fremde Person zu öffnen, habe aber auch herausfordernde Seiten. «Es braucht ein Gespür füreinander und manchmal ist es schwierig, sich abzugrenzen.» Als Bäuerin Catherine und ihr Mann Eugen Vonwiller den Demeter-Hof in Burgistein im Jahr 2010 von der Stiftung Stimme zur Pacht übernommen haben, war es in deren Sinn, sich sozial zu engagieren. «Unser Draht zu Menschen, die Schwierigkeiten haben, bestand schon immer, und es ist sehr schön, zu spüren, dass sich Conny seit 2021 bei uns wohl fühlt», sind sich die Vonwillers einig.
«Es braucht ein Gespür füreinander.»
Nicht nur Conny fühlt sich hier zwischen den Milchschafen, den Hochstammbäumen und den zahlreichen unterschiedlichen Tomatensetzlingen mittlerweile zu Hause, auch ihr Kater Timmi hat sich gut eingelebt. Es bedeute ihr viel, dass sie ihre Katze habe mitnehmen können, und sie fände es auch sehr schön, dass ihre jüngste Tochter manchmal übers Wochenende vorbeikommen dürfe, sagt die dreifache Mutter. Über Ostern verbringt die junge Frau beispielsweise einige Tage auf dem Hof der Vonwillers. Conny selber fliegt aber auch bald für eine Woche aus. «Die WoBe AG organisiert jedes Jahr betreute Gästeferien, letztes Jahr ging es für einige Tage Abwechslung ins Wallis und dieses Jahr fahren wir ins Tessin», sagt Priska Fleischlin.
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Mithelfen und Energie tanken
Nicht gerade bis ins Tessin, doch auch eine ziemliche Strecke reist Liliane, wenn sie mit dem Postauto ein- bis zweimal die Woche von Uetendorf nach Linden (BE) hochfährt. «In die wunderschöne Aussicht bei der Anfahrt verliebe ich mich jedes Mal neu», sagt die fröhliche junge Frau, die ebenfalls nur mit Vornamen genannt werden möchte. Aber nicht nur die Anreise, sondern auch die Tage auf dem Biohof Steinmatt gefallen ihr gut. «Als mir Andrea Berger, damals Betreuerin in der Institution Westwind verriet, dass sie den Hof ihrer Schwiegereltern übernehmen wird, habe ich gleich losgejubelt.» So verlockend schien es Liliane, bald beim Solidarische-Landwirtschaft-Betrieb (Solawi) mit Gemüsebau mit Hand anlegen zu dürfen. Vor allem das Pikieren der jungen Pflänzchen gefällt ihr gut, aber auch das Kaffeeservieren, wenn die Solawi-Mitglieder jeweils am Donnerstag ihr Gemüse abholen kommen. Da Liliane gestalterisch sehr begabt ist, kreiert sie auch Grusskärtchen für den Hofladen und bemalt Holzkästchen als Aufbewahrung für die Samen. An der Tagesstruktur Landwirtschaft bei Familie Berger gefalle ihr, dass sie raus an die frische Luft und unter Leute komme. «Der Kontakt zur Erde gibt mir Energie und hier oben kann ich einfach so sein, wie ich bin», beschreibt die Naturliebhaberin die Vorzüge ihrer Tätigkeit in Linden.
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Natürlich sei sie auch mal nicht so motiviert, bei Regenwetter draussen helfen zu müssen, gibt Liliane zu. Wobei es bei ihren Besuchen auf dem Biohof Steinmatt auch nicht immer darum geht, etwas zu arbeiten. «Die Gäste dürfen auch einfach die Natur geniessen und von guten Gesprächen mit den Betreuenden profitieren», sagt WoBe-Geschäftsführerin Fleischlin. «Für uns Gäste ist es zudem ein gutes Übungsfeld, auch mal Nein zu sagen, wenn wir während einer anstrengenden Tätigkeit eine Pause brauchen», so Liliane.
Auch für Andrea Berger steht nicht die zusätzliche Arbeitskraft im Vordergrund. Sie findet es schön, wenn mit den WoBe-Gästen neues Leben und neue Ressourcen auf den Hof kämen. Lilianes Anwesenheit habe zudem einen positiven Einfluss auf die Teamdynamik. Rund 40 Familien bieten Tagesstrukturen Landwirtschaft an. Die Tagesstruktur, die von WoBe AG im Jahr 2016 als Pilotprojekt startete und von der aktuell rund 15 Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen profitieren, kann ganz individuell gestaltet werden. Manche Gäste verbringen einen halben Tag pro Woche auf dem entsprechenden Hof, andere sogar fünf ganze Tage. Für alle, die gerne draussen sind, Tiere und die Natur mögen, sei dies ein tolles Angebot, findet Liliane. Und zudem dürfe sie immer mal wieder etwas Gemüse oder einige Eier mit nach Hause nehmen, verrät sie augenzwinkernd.
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Das Angebot der WoBe AGDie Abkürzung WoBe steht für Wohn- und Betreuungsangebote in Familien, wobei die Gastfamilien vorwiegend auf einem landwirtschaftlichen Betrieb leben. Die Angebote der WoBe AG richten sich an Menschen ab 18 Jahren mit besonderen Bedürfnissen. Beispielsweise an Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen, psychischen Erkrankungen oder an Seniorinnen und Senioren. Vom Angebot des begleiteten Wohnens auf dem Land profitieren momentan rund 75 Personen, von der Tagesstruktur Landwirtschaft 15 Gäste, und rund 90 Personen begeben sich ab und zu für einige Ferientage oder Wochenenden auf einen Gasthof. Es sind 150 Familien im Kanton Bern und in den angrenzenden Kantonen, die ihr Haus und ihren Hof für betreutes Wohnen oder Arbeiten öffnen. Die WoBe AG geht aus einem Angebot der OGG Bern, der Ökonomischen Gemeinnützigen Gesellschaft Bern, hervor. Sie wurde 1998 ins Leben gerufen und besteht seit 2019 als selbstständige gemeinnützige AG. Die Finanzierung läuft grösstenteils über die Invalidenversicherung sowie Ergänzungsleistungen. Es kann beim Kanton eine Kostenbeteiligung beantragt werden.
wobeag.ch
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