Für einige sind es die schönsten Pflanzen, die es gibt, für andere sind sie der Inbegriff der Spiessigkeit – Orchideen faszinieren die Menschen schon seit Jahrhunderten, wenn nicht schon länger. Als Noemi Harnickell in Reutlingen die Journalistenschule besuchte, fielen ihr überall Orchideen auf – Im Chinarestaurant standen solche Blumen aus Plastik, an den Villen entlang der Achalm, dem Hausberg von Reutlingen, zierten sie die Fenstersimse. Die junge Journalistin würde sich selbst nicht als Orchideen-Fan bezeichnen, doch auch sie wurde von ihnen in den Bann gezogen. Ihr Buch enthält jedoch nicht nur biologische Fakten, sondern beschäftigt sich mit Züchtern, der Massenproduktion und der Sozialgeschichte, in welcher die Orchidee immer wieder auftaucht.  

Wechselnde Deutung derselben Pflanze 

«Woher diese Faszination des Menschen für die Orchidee kommt, frage ich mich auch» sagt Noemi Harnickell nachdenklich. Die Pflanze werde laut der Journalistin vermenschlicht und über die Zeit unterschiedlich gedeutet – eine Weile stand sie für das männliche Geschlecht, plötzlich wieder für das weibliche. Die Blume galt jedoch nicht nur als Geschlechtssymbol, sondern stand während der Kolonialzeit für das «Erobern» ferner Schätze und Trophäen: Man holte die Schönheiten aus den fernen Regenwäldern auf teilweise gefährlichen Reisen nach Europa. «Die Art, wie über die Orchideen geschrieben wurde, erinnert mich an das ‹Erobern› einer Frau», meint die Autorin.   

Orchideen-Geschichte 

Nicht nur Charles Darwin, der Erfinder er Evolutionstherie, beschäftigte sich mit den exotischen Blumen, die Pflanzen hatten auch auf andere Art und Weise Einfluss auf die Geschichte und Kultur. Bei den Azteken und Mayas wurde Vanille – eine Kletterorchidee – Getränken beigemischt und getrunken. Die Autorin beschreibt in ihrem Buch, dass schon Shakespeare sie als Symbol für Weiblichkeit verwendete. Im 19. Jahrhundert waren rundliche, füllige Frauenkörper in Mode, deshalb wurden auch rundliche Orchideenblätter gezüchtet, um diesen Idealen zu entsprechen – Blumen und Kultur beeinflussten sich also gegenseitig.   

Ein Gefühl, wie im Regenwald 

Wie für die Orchideenjäger im 19. Jahrhundert, sei es für ZüchterInnen oft ein Adrenalinkick, wenn die Orchidee das erste Mal blüht. Die Blume verkörpere noch heute Exotisches und Fernes. «Sie symbolisieren ein Sehnsuchtsgefühl – vielleicht kann man nicht reisen und die Pflanze kann einem das Gefühl geben, man sei im Regenwald. Auch ich habe den Eindruck, die Blumen haben einen Hauch von Exotik. Doch sie verkörpern nicht nur Fernweh, sondern auch die Verbundenheit zur Natur.»   

Von Züchtern und Massenproduzenten 

Zwei Jahre widmete Noemi Harnickell der Reportage zu Orchideen und plante Reisen rund um die Welt. Ihre Pläne wurden jedoch von Corona durchkreuzt und so fiel ihr Besuch bei einem Vanilleproduzenten in Madagaskar aus. Vanille sei die einzige Orchidee, die als Nutzpflanze eingesetzt wird.   

In ihrem Buch beschreibt Harnickell das weite Spektrum der Art und Weise, wie Orchideen für den Verkauf produziert werden. Es reicht von privaten Züchtern mit einzelnen Orchideenarten bis hin zur Massenproduktion in Holland, dem zweitgrössten Pflanzenexporteur der Welt. Sie besuchte «Sion Orchids», den drittgrössten Orchideenproduzent der Niederlande. Trotz der Grösse des Zuchtbetriebs seien die Menschen dort sehr herzlich gewesen. Deshalb müsse man nicht immer ein schlechtes Gewissen haben, wenn man in der Migros eine Orchidee solcher Herkunft kaufe.    

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Wilderer der anderen Art 

Auch mit der Orchideen-Wilderei beschäftigte sich die Journalistin – in einem Naturschutzgebiet in Süddeutschland wurden 2019 3000 Orchideen gestohlen. Sie besuchte einen beteiligten Polizisten und sprach mit ihm über den Tatbestand.Alle Orchideenarten stehen auf der Liste des Washingtoner Artenschutzübereinkommens (CITES). So dürfen sie nicht einfach ausgerissen und über Landesgrenzen gebracht werden. Im Fall von Süddeutschland stellte sich schliesslich heraus, dass Wildschweine die Orchideen ausgegraben und gefressen hatten. 

Ihre Reise führte sie ausserdem nach Rust in Deutschland, in die Heimat des Europaparks. Doch statt Achterbahn zu fahren, besuchte sie nach dem ersten Lockdown 2021 das Naturschutzgebiet direkt am Park. Die Autorin machte dort mit einem Naturschützer eine Bootsfahrt und betrachtete im Sonnenschein die blühenden Orchideen. «Eine Idylle direkt neben dem Europapark», schildert sie beeindruckt.    

Die Menschen hinter den Pflanzen  

Doch nicht nur Orte, auch Menschen sind Noemi Harnickell in Erinnerung geblieben. So besuchte sie im Kanton Thurgau den Orchideenzüchter Roland Amsler, der ihr viel Fachwissen über diese Pflanzenfamilie vermittelte. Daraus resultierte ihre Reportage mit Geschichtswissen und Fakten über Orchideen. «Die durchschnittliche Blattgrösse einer Orchidee liegt bei einem Zentimeter. Jede Orchidee, die ich bisher gesehen habe, hat weit grössere Blätter. Das gibt Auskunft über unser Zucht- und Einkaufsverhalten», gibt Harnickell ein Beispiel. Offenbar werden von KonsumentInnen grossblättrige Orchideen bevorzugt, weshalb diese Blumen auf dem Markt dominieren, obwohl sie nicht dem natürlichen Durchschnitt entsprechen.   

Persönlicher Bezug zur Orchidee   

Die junge Schweizer Autorin hat auch einen persönlichen Bezug zur Orchidee. Die Frau ihres Vaters hatte Fenstersimse voller Orchideen und um die Wurzeln zu wässern, badete sie sie einmal die Woche in einem Becken. «Sie badete ihre Pflanzen einmal in der Woche und redete mit ihnen. Nicht wie mit einem Menschen, aber wie man vielleicht mit einem Haustier sprechen würde», erinnert sich die Bernerin. Das sei ihr im Gedächtnis geblieben und als Teenagerin dachte sich Harnickell während der Flüchtlingswelle 2015: «Wenn doch alle so nett zu ihren Blumen, zueinander und der Umwelt wären wie sie.»    

Zwei Jahre für die Orchidee   

Auf die Frage, ob sich die zwei Jahre gelohnt haben, die sie den Orchideen widmete, sagte die junge Journalistin: «Ich hatte sehr viel Spass. So viel Spass, dass ich fast ein schlechtes Gewissen hatte, weil es wichtigere Themen gibt, wie beispielsweise die Klimakrise. Trotzdem ist die Orchidee auch ein gesellschaftliches Thema – die Pflanzen sind gefährdet und werden gewildert. Das Thema ist nicht gleich wichtig, wie andere, hat aber auch seine Relevanz. Ich wollte ein Buch schreiben, das die Menschen zum Schmunzeln bringt.»   

Obwohl die exotischen und auffälligen Blumen mittlerweile sehr präsent sind, ist und bleibt ihre Geschichte und Zucht wortwörtlich ein Orchideen-Thema. Denn so nennt man ein absolutes Nischenthema.