Das Wetter checken wir per App, dank Virtual-Reality-Brille flüchten wir uns in Scheinwelten und teure Outdoorbekleidung tragen wir häufiger beim Einkaufen als auf dem Berg. Dass wir Menschen uns immer weiter von der Natur entfernen, war bis anhin nur eine Annahme, empirische Beweise gab es dafür kaum. Eine Metastudie eines deutsch-französischen Forschungsteams der Universität Leipzig und der Station für theoretische und experimentelle Ökologie lieferte letztes Jahr konkrete Fakten.

Auf der Suche nach bereits existierenden Untersuchungen zum Thema, stiessen die Forscher lediglich auf achtzehn Studien zur Naturentfremdung. Diese beschränken sich zudem vorwiegend auf Nordamerika, Westeuropa und Japan. Auch wenn die Resultate auf eine weltweite Naturentfremdung schliessen lassen, braucht es dringend weitere Untersuchungen, um das globale Ausmass des Phänomens aufzuzeigen. Die wenigen vorhandenen Studien zeichnen jedoch ein deutliches Bild. Amerikanische Nationalparks wurden von einem Viertel weniger Menschen besucht als noch vor 24 Jahren, genauso sind Camping- und Wanderaktivitäten der amerikanischen Bevölkerung deutlich gesunken. Auch die Nachfrage nach Jagd- und Fischlizenzen nimmt in Nordamerika immer weiter ab.

Nicht nur die emotionale, auch die räumliche Distanz zur Natur wird immer grösser. Im Jahr 2020 lebten Menschen im Durchschnitt 9,7 Kilometer von einem Naturgebiet entfernt. Damit ist die durchschnittliche Distanz zur Natur in den letzten zwanzig Jahren um sieben Prozent gewachsen. In Deutschland ist diese durchschnittliche Entfernung mit 22 Kilometern und in Frankreich mit 16 Kilometern am grössten.

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Pikachu statt Naturführer

Die Nähe zur Natur, betonen die Forscher, ist vor allem bei Kindern wichtig, da ihre Werte und Vorstellungen gegenüber der Umwelt durch Erfahrungen im frühen Alter geformt werden. Eine englische Studie aus dem Jahr 2002 zeigte auf, dass Achtjährige 78 Prozent aller Pokémon-Charaktere unterscheiden können, aber nur 53 Prozent der in Grossbritannien vorkommenden häufigen Tierarten. Auch in Kinderbüchern und Kinderfilmen spielt die Natur nur noch eine untergeordnete Rolle. Seit dem Jahr 1938 nehmen die Abbildungen von Tieren und Naturschauplätzen in Kinderbüchern in den USA sowie Australien ab, während Bilder von künstlichen Landschaften wie Städten ansteigen. In Filmen von Disney und Pixar sehen Kinder seltener Naturbilder als früher und die Artenvielfalt der gezeigten Tiere sinkt jährlich. Naturbegriffe haben laut der untersuchten Studien auch in Büchern, Liedern und Filmen für Erwachsene seit den Fünfzigerjahren stetig abgenommen.

«Zu wissen, wie sich die Menschen mit der Natur beschäftigen, ist essenziell, denn davon hängt ab, welche Beziehung wir zur Natur haben und wie wir mit ihr umgehen», sagt Victor Cazalis, Erstautor der Studie. Um klare Aussagen über die Naturentfremdung treffen zu können, bedürfe es jedoch weiterer Studien. So zeigen die wenigen Untersuchungen nicht auf, ob Menschen ihre Naturverbundenheit stattdessen in den sozialen Medien, durch Onlinevideos oder in Videospielen ausleben.