Faszination Schwarzwild
Das unbekannte Familienleben der Wildschweine
Wildschweine machen in der Regel durch negative Schlagzeilen wie explosionsartige Vermehrung, Eindringen in Vorgärten von Städten, hohe Schadensbilanz auf Feldern, aber auch ihre schwierige Bejagbarkeit auf sich aufmerksam. Weniger bekannt ist ihre Lebensweise in einem sozialen Familienverband.
Die Familie der echten Schweine (suidae) gibt es bereits seit vielen Millionen Jahren. Sie setzt sich aus den verschiedenen Gattungen zusammen, die jeweils diverse Arten umfassen. Eine davon ist das Europäische Wildschwein (Sus scrofa),welches innerhalb Europas auch in etlichen regionalen Unterarten vorkommt. Ausser in Grossbritannien und einem Grossteil Skandinaviens gibt es das Europäische Wildschwein in ganz Europa. In unseren Breiten lebt das Mitteleuropäische Wildschwein (Sus scrofa scrofa). Zoologisch gesehen gehören alle Wildschweine zu den nicht wiederkäuenden Paarzehern. Ein typisches Merkmal ist ihr borstiges Haarkleid, das in seiner Färbung stark variieren kann. So sind neben schwarzen, schwarzbraunen, braunen und grauen Sauen immer wieder weissbunte Tiere zu sehen. Letztere könnten durch Verpaarungen mit früher frei lebenden Hausschweinrassen entstanden sein. Und bei hohem Jagddruck ist Schwarzwild dämmerungs- und nachtaktiv, sonst auch tagaktiv.
«Als sehr gesellige Tiere leben Wildschweine in engen Familienverbänden zusammen. Diese Rotte besteht entweder aus einer Bache und deren letztem Wurf sowie den weiblichen Stücken des vorletzten Wurfes. Oder aus mehreren Bachen, meist Geschwistern mit den Frischlingen und den Überläuferbachen des letzten Wurfes. Die Rotte wird angeführt von der Leitbache, die mit strengem Regiment über ihre Familie herrscht», hält Oberförster Andreas Naumann fest. Alle männlichen Nachkommen trennen sich im Alter von 15 bis 18 Monaten von der Gemeinschaft oder werden vertrieben. «Manchmal schliessen sich diese dann noch zu Überläuferverbänden zusammen, ehe sie ab einem Alter von zwei Jahren zu Einzelgängern werden. Nur während der Paarungszeit (Rausche) werden die Keiler in den Rotten geduldet», so Naumann.
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Die Rauschzeit geht in der Regel von November bis Januar. Innerhalb der Rotte besteht eine sogenannte Brunstsynchronisation. Die Leitbache bildet immer den Auslöser der Rausche. Somit sind alle Frischlinge einer Rotte fast gleich alt und haben dieselben Überlebenschancen, da die Bachen untereinander auch Ammentätigkeiten übernehmen. Nach einer Tragzeit von etwa 115 Tagen bringen die Bachen meistens im März/April ihre Jungen zur Welt. Bei Verlust des gesamten Wurfes rauscht die Bache häufig nach und wirft dann ein paar Monate später noch einmal. Die Geburt kann je nach Witterungsverhältnissen auch etwas herausgezögert werden. Die werdende Mutter legt hierfür einen sogenannten Wurfkessel aus Zweigen, trockenem Gras und grossen Blättern an.
«Dieser kann wie ein riesiges Kugelnest aussehen und ist sehr aufwendig gestaltet», informiert der Oberförster. In diesem Nest bleiben die Jungen, die man in ihrem kompletten ersten Lebensjahr Frischlinge nennt, je nach Witterung etwa 5 bis 10 Tage. Anschliessend werden die Wurfkessel aufgelöst und nur noch Schlafkessel bezogen, die ebenfalls aus einer mit dem Rüssel gegrabenen und noch aus gepolsterten Kuhle bestehen. «Darin liegen teilweise auch mehrere Muttertiere gemeinsam mit ihren Frischlingen sehr eng beieinander. Dieses wichtige Sozialverhalten wird als Kontaktliegen bezeichnet», hält Andreas Naumann fest. Gerade in den ersten Wochen bewachen alle Bachen einer Rotte den gesamten Nachwuchs und verteidigen ihn im Notfall auch.
Die Rangordnung an den Zitzen
«Eine Bache besitzt fünf Zitzenpaare, wobei nur acht Zitzen Milch geben», erklärt der Oberförster. Somit können kaum mehr als acht Frischlinge aufgezogen werden, denn jeder Frischling hat seine eigene Zitze. Eine feste Saugordnung kristallisiert sich allerdings erst nach etwa vier Wochen heraus. Jeder Frischling saugt dann nur noch bei der eigenen Mutter und verteidigt seine Zitze vehement gegen Eindringlinge von aussen. Da die hintersten Zitzen am meisten Milchgeben, kann man schon anhand der Saugordnung schnell die stärksten Frischlinge ausmachen. Nachdem die Bachen gefrischt haben, finden sie sich allmählich wieder mit anderen Muttertieren und deren Nachwuchs im Familienverband zusammen. «Verendet eine Bache, können die anderen gut die Aufzucht des verwaisten Nachwuchses übernehmen», sagt Andreas Naumann.
«Im Schlafkessel liegen oft mehrere Muttertiere mit ihren Frischlingen.»
Die erste feste Nahrung nehmen Frischlinge bereits zwei Wochen nach der Geburt auf. Von der Muttermilch abgesetzt werden sie jedoch erst zwischen dem dritten und vierten Lebensmonat. Zunächst geniessen die Frischlinge auch bezüglich der Futterrangordnung noch weitgehende Narrenfreiheit. Im Alter von etwa zehn Monaten haben sie ihre Stellung innerhalb der Gemeinschaft gefunden. Dafür beginnen sie bereits wenige Stunden nach der Geburt mit kleinen Kampfspielen, die sie die nächsten Wochen und Monate immer wieder fortsetzen, um ihre Ränge genau auszutesten. Vom ersten bis zur Vollendung ihres zweiten Lebensjahres gelten die jungen Schwarzkittel als Überläufer. Kurz bevor die Überläuferkeiler den Familienverband verlassen, ändert sich die Rangordnung noch einmal. Am Ende haben alle männlichen Überläufer innerhalb der Rotte einen niedrigeren Rang als die weiblichen Überläuferbachen.
«Zwischen dem dritten und sechsten Lebensmonat verfärbt sich die anfangs noch sehr auffällig gestreifte Fellzeichnung langsam in ein helles Braun, bis es schliesslich in die Erwachsenenfärbung übergeht. Die Streifen sind im Übrigen die perfekte Tarnung am Waldboden mit Laub und dürrem Gras», so Naumann.
Anpassungsfähige Allesfresser
Da Wildschweine Allesfresser sind, können sie sich hervorragend an ihren jeweiligen Lebensraum anpassen. Eigentlich bestehen etwa 50 Prozent ihrer Nahrung aus Waldfrüchten wie Eicheln und Bucheckern und 20 Prozent aus Getreidearten und Hülsenfrüchten. Fällt dieses Nahrungsangebot mal spärlicher aus, stellen sie sich mühelos auf den hauptsächlichen Verzehr grüner Pflanzenteile wie Süssgräser, Löwenzahn oder Kleearten und unterirdischer pflanzlicher Nahrung wie Wurzeln oder Knollen um. Zudem bereichern Kleinsäuger, Regenwürmer, Larven, Raupen oder Engerlinge ihren Speiseplan. Wildschweine fressen aber auch verendete Stücke der eigenen Art, jedoch nie direkte Familienmitglieder, die sie am Geruch von anderen unterscheiden können.
Das wilde Matriarchat
Das ranghöchste weibliche Stück einer Rotte, die Leitbache, gibt bei fast allen Verhaltensabläufen den Ton an. Sie führt die Gruppe unter anderem zu lukrativen Futterplätzen und zu Suhlen. Zudem gibt die Leitbache vor, wann Zeit zum Ruhen ist. Werden Kot- und Harnplätze passiert, die im gesamten Einstandsgebiet als Fixpunkte verteilt sind und die dann auch der Reviermarkierung dienen, erfolgt beim Harn- und Kotabsatz eine Verhaltenssynchronisation. Auch das Scheuern und somit Setzen von Duftmarken an sogenannten Malbäumen dient dem Abstecken des Reviers und zusätzlich dem Wohlbefinden. Es ist ebenfalls als Nachahmungsverhalten unter den Rottenmitgliedern zu beobachten.
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«Die Körperpflege der Tiere untereinander ist von echt grosser Bedeutung, denn gegenseitiges Putzen dient in allen Altersstufen dem sozialen Zusammenhalt der Gruppe», informiert der Oberförster. So werden auch lästige Parasiten gleichzeitig entfernt. Das schön entspannt auf der Seite liegende Tier geniesst diese Prozedur hörbar, indem es mit geschlossenen Augen tiefe Grunzlaute von sich gibt. Generell ist die Kommunikation der Sauen untereinander sehr vielschichtig.
Auch bekannt sind die Schwarzkittel für ihre enorme Intelligenz. Sie lernen hervorragend durch Nachahmung. Ausserdem verfügen sie über ein sehr gutes Gedächtnis, aber auch Zeitempfinden. Bestehen Fütterungen, wissen sie schnell, wer sie wann mit Leckerbissen versorgt. Geruchsinn und Gehör sind perfekt ausgebildet und gleichen die schlechteren Augen optimal aus. Fazit: Wildschweine gehören unbestritten zu den faszinierendsten Wildarten weltweit. Schon ein kleiner Einblick in ihre Lebensweise macht schnell neugierig auf mehr.
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