Da steht es plötzlich, das vielleicht kostbarste Tier der Welt. Wie aus Felsen gemeisselt, erhebt es sich aus dem dürren Savannengras, ein Wesen mit Hörnern wie die eines Triceratops. Als das Nashorn Zacharia Mutai entdeckt, trabt der Gigant fast fröhlich auf den Wärter zu. Das beinahe armlange Horn ist direkt auf den kleinen Mann gerichtet. Der aber fürchtet sich nicht. «Najin ist in einem Zoo geboren und aufgewachsen», sagt der Kenianer, «sie ist ihr Leben lang an Menschen gewöhnt und kennt mich seit Langem.» Für die Tiere hat er einen Eimer mit Karotten mitgebracht. Die mögen sie besonders gerne. Während die beiden anderen Nashörner in ihrem Gehege die Mitbringsel vom Boden auflesen, frisst Najin sie Mutai aus der Hand. Dabei streicht ihr der Wärter über die Wange. «Ich kenne sie, seit sie in Kenia angekommen ist», sagt der 45-Jährige, «ich kann ihre Gedanken und ihre Körpersprache lesen.»

Najin wurde im Juli 1989 im tschechischen Safaripark Dvůr Králové geboren. Dass einige Wochen nach ihrer Geburt die Mauer fiel und ihre Heimat auf den Kopf stellte, sollte irgendwann auch das Leben des kleinen Dickhäuters durcheinanderwirbeln. In einer sich öffnenden Welt wurden für das Tier 20 Jahre später grosse Pläne geschmiedet. Denn Najin ist nicht irgendein Nashorn. 2009 wurde sie gemeinsam mit ihrer Tochter Fatu, ihrem Vater Sudan und Suni, einem weiteren Bullen, ins Ol-Pejeta-Reservat im Zentrum Kenias geflogen. Damals gehörten die vier Tschechen zu den letzten acht Nördlichen Breitmaulnashörnern der Erde. Man hoffte, die Tiere durch eine Umsiedlung in das Schutzgebiet auf dem Laikipia-Plateau nahe ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets vor dem unmittelbar bevorstehenden Aussterben zu bewahren. 2014 starb Suni, im Jahr darauf auch seine letzten Artgenossen in den Zoos von Dvůr Králové und San Diego.

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Nachdem Najin die letzte Karotte verzehrt hat, grast sie gemächlich neben Fatu und einem weiteren Nashorn. «Tauwa ist ihre Freundin und Trainerin», sagt Mutai über das Südliche Breitmaulnashorn. «Sie soll ihnen natürliche Verhaltensweisen beibringen, die sie aus dem Zoo nicht kennen.» Von ihrer Gehegegenossin unterscheiden sich Najin und Fatu kaum, Mutai macht ihre Besucher jedoch darauf aufmerksam, dass die Nördlichen Breitmaulnashörner deutlich sichtbar behaartere Ohren haben.

«Najin hat ihre freundliche und entspannte Art von ihrem Vater Sudan geerbt», sagt Mutai. Wenn man den kleinen Mann so beobachtet, wie er mit dem Stolz eines olympischen Springreiters, der sein Pferd tätschelt, das Nashorn betrachtet, man fühlt seine tiefe Verbundenheit mit den Tieren. «Als Sudan am 19. März 2018 starb, war ich bis zum letzten Augenblick bei ihm», sagt er lächelnd, «sein Tod hat die ganze Welt erschüttert.» Lange bevor mit Sudan das letzte männliche Tier starb, war Wissenschaftlern klar, dass die Unterart wohl für immer von der Erde verschwinden würde, wenn nicht entschieden Massnahmen ergriffen würden. Sie wollen das unweigerliche Aussterben der Nördlichen Breitmaulnashörner nicht einfach hinnehmen.

Wissenschaft gegen das Aussterben

Einer Forschergruppe unter der Leitung von Bio Rescue, einem internationalen Konsortium aus Wissenschaftlern und Naturschützern, ist es im Herbst 2023 erstmals gelungen, einen im Labor erzeugten Nashornembryo der südlichen Unterart in die Gebärmutter eines Weibchens zu transplantieren. Die Schwangerschaft verlief über 70 Tage wie erhofft. Infolge von extremen Regenfällen kam es jedoch zu einer Verkettung unvorhergesehener Zwischenfälle, die zum Tod der Leihmutter, einer Südlichen Breitmaulnashornkuh, führte. Ihr Gehege war überschwemmt worden. So konnten aus tieferen Erdschichten Sporen von Clostridien an die Erdoberfläche gelangen, die das trächtige Tier vergifteten. «Der Transfer und die Trächtigkeit waren für uns dennoch ein Erfolg», sagt Thomas Hildebrandt, Bio-Rescue-Projektleiter, Abteilungsleiter für Reproduktionsmanagement des Berliner Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung und Professor an der Veterinärmedizinischen Fakultät an der Freien Universität. Die Trächtigkeit der Leihmutter mit einem zum Zeitpunkt ihres Todes 6,4 cm langen Fötus wertet er als wissenschaftlichen Durchbruch. «Er hatte seine kritischen Momente bereits alle überstanden», sagt Hildebrandt. Was dadurch bereits erreicht wurde, hat nun den Weg geebnet, dieselbe Technik auch bei den Nördlichen Breitmaulnashörnern anzuwenden. Seit 2019 wurden mit den eingefrorenen Spermien bereits verstorbener Tiere 36 Embryonen des Nördlichen Breitmaulnashorns erzeugt und kryokonserviert. Sie lagern in flüssigem Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius in Berlin und Cremona.

Naturschutz zwischen Hoffnung und Realität

Solange eine fortgeschrittene Trächtigkeit nicht bestätigt ist, hält sich Bio Rescue vorerst über den aktuellen Stand der Transfers bedeckt. «Beim Menschen liegt die Erfolgsquote trotz etwa vier Millionen pro Jahr bei nur zwischen 20 und 50 Prozent», sagt Hildebrandt, «bei einer neuen Art ist der Embryotransfer natürlich immer eine grosse Herausforderung.» Der Reproduktionsbiologe blickt jedoch optimistisch in die Zukunft: Für ihn ist es nur eine Frage der Zeit, bis eine Geburt gelingen wird. «Da bin ich hundertprozentig sicher. Wir hoffen, dass wir 2025 über die erste erfolgreiche Trächtigkeit berichten können. Das grosse Ziel ist natürlich eine Wiederauswilderung in Zentralafrika.»

Kenia ist heute das Land mit der grössten Nashornpopulation Ostafrikas. Mehr als 1000 der bedrohten Spitzmaulnashörner leben hier, neben den letzten beiden Nördlichen auch annähernd 1000 Südliche Breitmaulnashörner, die meisten davon in Laikipia. Im Borana-Schutzgebiet ganz im Osten des Laikipia-Plateaus beobachtet Rianto Lokoran aufmerksam einen von Buschgruppen bewachsenen Hang durch sein Fernglas. Der Leiter der Antiwilderer-Einheit in dem 130 Quadratkilometer grossen Reservat führt bisweilen kleine Touristengrüppchen auf Wanderungen zu seinen wichtigsten Schützlingen.

«Hier im Lewa-Schutzgebiet nebenan wurden 1983 die ersten 15 Nashörner wieder angesiedelt», erklärt Lokoran. Bis Mitte der 80er-Jahre war die Zahl der Spitzmaulnashörner in Kenia von ursprünglich mehr als20 ​000 auf gerade einmal 350 gesunken. Naturschützer befürchteten, dass die Art für immer verschwinden könnte. «Inzwischen haben wir hier einen der besten Orte in Afrika, um die Tiere zu beobachten.» Zwischen Lewa und Borana wurden mittlerweile die Zäune entfernt, um mehr Bewegungsfreiheit für die auf insgesamt 268 Tiere angewachsene Nashornpopulation zu schaffen. Das Schutzgebiet macht jedoch nur einen kleinen Teil von Laikipia aus. Über die gesamte Fläche der Hochebene verteilt liegen mehr als ein Dutzend weitere Reservate unter jeweils eigenständiger Leitung. Sie sind grösstenteils eingezäunt. Zwar bestehen für die Wildtiere innerhalb des zweitgrössten zusammenhängenden Ökosystems Kenias Korridore, die noch immer das Samburu-Nationalreservat im Norden mit dem Mount-Kenia-Nationalpark verbinden und unter anderem von Elefanten genutzt werden. Zum Schutz der Nashörner werden aber noch immer Barrieren und neue Zäune errichtet. «Unsere Nashörner brauchen mehr Platz», sagt Llewellyn Dyer mit Blick von einer der Bergketten Boranas über ein tief eingeschnittenes Tal. «Inzwischen kommen mehr Tiere bei Kämpfen mit Artgenossen als durch Wilderei um.» Auch zeigen Studien, dass die  Geburtenrate abnimmt, wenn sich zu viele Nashörner einen begrenzten Lebensraum teilen. Dyers aus Grossbritannien stammende Urgrosseltern erhielten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Farmland in dem Teil von Britisch-Ostafrika zugeteilt, das heute das Borana-Schutzgebiet bildet. Ihr Urenkel unterstützt heute die Verwandlung der einstigen Viehweiden in ein lukratives Safariziel mit mehreren luxuriösen Lodges wie dem Lengishu House, von dem aus man eine atemraubende Weitsicht über die Wildnis Laikipias hat. Vor allem die Nashörner bilden inzwischen den Motor für einen exklusiven Tourismus, der in der strukturschwachen Region wichtige Arbeitsplätze geschaffen hat.

Zwischen Safaritraum und Schutzprogramm

Dyer träumt davon, dass die Nashörner sich von hier aus einmal wieder frei bis in den Westen Laikipias ausbreiten können und eine wachsende Zahl an Touristen anziehen. Das Projekt zum Erhalt der Nördlichen Breitmaulnashörner in Ol Pejeta sieht er hingegen mit Argwohn. «In meinen Augen ist das eine spektakuläre Geldverschwendung», sagt der Kenianer. Stattdessen solle man sich lieber um Lösungen für die wachsende Zahl der anderen Nashörner kümmern.

Ob von Laikipia aus irgendwann einmal wieder Nashörner ihren alten Lebensraum zurückerobern, den sie vor Jahrzehnten in Afrika verloren haben, bleibt freilich vorerst ungewiss. Ob die Tiere dann haarige Ohren haben werden oder nicht, mag für viele Bewohner von Laikipia erst einmal zweitrangig sein. Für die Wissenschaftler, die weiter für das Überleben der Nördlichen Breitmaulnashörner kämpfen, könnte Kenia jedoch bald schon Geschichte im Naturschutz schreiben.