Rehe markieren für die Wissenschaft
Eine Marke für das Kitz
Rehe sind kaum voneinander zu unterscheiden. Nicht so im Revier der Jagdgesellschaft Ruswil-Nord. Der Grosstierarzt und Jäger Martin Stäger hat dort zusammen mit Kollegen im Laufe der Jahre 1000 Tiere individuell mit Ohrmarken versehen. Ein Langzeitprojekt, das Wissen schafft.
Langsam und bedacht stapft Martin Stäger vorsichtig durch das Unterholz eines Luzerner Mischwaldes. Mithilfe eines Stocks drückt er da und dort das Gestrüpp zur Seite, um einen Blick darunter zu werfen. «Hier in diesem Waldstück könnten bis zu sechs Rehkitze liegen», erklärt er. Und genau die will er finden.
Stäger ist Grosstierarzt in Ruswil (LU) und amtlicher Tierarzt beim Veterinärdienst Luzern. Seine Leidenschaft gilt jedoch den Rehen. Dem passionierten Jäger liegt weniger daran, die Tiere zu schiessen, als vielmehr alles über sie zu lernen. «Schon als Bub bin ich mit dem Feldstecher das Tobel hinaufgestiegen und habe Rehe beobachtet», erzählt Stäger. Rehe gehören zur Familie der Hirsche, die weltweit mehr als 80 Arten umfasst. Zusammen mit dem Rothirsch ist es der einzige ursprüngliche Vertreter dieser Tiergruppe in der Schweiz. Zwei weitere Hirscharten, der Dam- und der Sikahirsch, wurden eingeschleppt und konnten seitdem lokal kleinere Populationen etablieren.
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Rehe besiedeln primär Waldrandzonen und Lichtungen, wo man sie oft einzeln oder in kleinen Gruppen antrifft. Dort beobachtete auch Martin Säger die Tiere. «Dabei habe ich mir immer mehr gewünscht, die Individuen voneinander unterscheiden zu können». Denn oft gibt es nur wenig Merkmale, an denen man die einzelnen Tiere erkennen kann. Bei Böcken ist es das Geweih, bei Ricken, den weiblichen Tieren, vielleicht eine alte Verletzung. Damit wollte sich Stäger nicht zufrieden geben und er fing an, die Tiere individuell zu markieren.
Die Rehkitzrettung als Ausgangspunkt
Als Grosstierarzt hat Martin Stäger viel Erfahrung im Anbringen von Ohrmarken. Bei Rehen ist dies allerdings nicht so einfach wie bei Schafen oder Kühen. «Die Tiere sind schliesslich scheu und man kann sich ihnen nicht einfach so nähern», bemerkt Stäger. Und so markiert er die Jungtiere, die Kitze.
Die meisten von ihnen findet Stäger bei den jährlichen Rehkitzrettungsaktionen. Dabei werden die Felder vor dem Mähen mit Drohnen und Wärmebildkameras abgesucht, um die darin verstecken Jungtiere zu finden und vor dem sicheren Tod zu retten. «Die Mähmaschinen sind mittlerweile so gross, dass die Landwirte keine Chance haben, die Kitze von der Fahrerkabine aus zu sehen», so Stäger. Darum werden die Kitze vorab lokalisiert und am Feldrand in Sicherheit gebracht.
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Dank der Rehkitzrettung fallen in der Region viel weniger Kitze dem Mäher zum Opfer als früher. «Das ist nebst dem Tierschutzaspekt auch generell wichtig für den Bauern», erklärt Stäger, «denn durch Kadaverteile können Bakterien, die Botulismus verursachen, ins Futter der Kühe gelangen.» Solche Fälle seien in den letzten Jahren zum Glück selten vorgekommen. So profitieren alle von der Rehkitzrettung. Einmal vor dem Mäher gerettet, bekommen die Kitze von Martin Stäger Ohrmarken verpasst. Ein kleiner Piecks für ein sowieso schon gestresstes Tier. «Der Stress der Rettung und Markierung ist allerdings bei Weitem besser, als in einer Mähmaschine zu Tode zu kommen», betont der Tierarzt und schaut unter ein weiteres Gebüsch. Gut versteckt vor ihm im Unterholz liegt plötzlich ein kleines Rehkitz. Aus grossen, dunklen Augen schaut es den so viel grösseren Menschen an, bleibt jedoch liegen. «Das Kitz ist wahrscheinlich kaum eine Woche alt. Bis zum Alter von 10 bis 14 Tagen flüchten die Jungtiere meistens nicht.»
Geduldig warten die jungen Rehe, bis ihre Mutter vom Äsen zum Säugen zurückkommt, und verlassen sich dabei ganz auf ihre Tarnung. Die Ricke befindet sich oft ganz in der Nähe. Sehen tut selbst Stäger sie selten. Aber dank seiner jahrelangen Arbeit in seinem Revier weiss der Jäger oft, in welchem Waldstück wie viel Rehe ihre Jungtiere zur Welt bringen. «Rehe sind ziemlich standorttreu», erklärt Stäger und holt aus seiner Tasche zwei Ohrmarken. Es handelt sich dabei um ähnliche Marken, wie sie auch für Lämmer verwendet werden. Mit einer Zange bringt er jeweils eine der Marken an jedes Ohr des kleinen Kitzes an. Dieses quiekt kurz, bleibt aber ruhig liegen. Stäger ist routiniert, sodass die Prozedur rasch abläuft. Danach entfernt sich der Tierarzt vom Kitz und gibt so der Mutter die Chance, zu ihrem Nachwuchs zurückzukehren. Die Ricken scheinen die Marken an ihren Kitzen nicht zu stören, sodass sie die markierten Kitze problemlos wieder annehmen.
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Daten sammeln per Fotofalle
In der Nähe kontrolliert Martin Stäger eine Fotofalle, die an einem Baum hängt. Sie ist eine von zahlreichen Kameras in den Wäldern der Umgebung von Ruswil. Damit kann der Jäger die vorbeikommenden Tiere im Auge behalten. Nebst Fuchs und Dachs, selten Wildschwein, Rotwild oder Gämse, findet er darauf auch «seine» Rehe mit den Ohrmarken. Das betrifft gebietsweise einen Grossteil des Rehbestands. Mithilfe der Kamerabilder kann er die Tiere individuell erkennen und ihre Entwicklung ein Leben lang mitverfolgen. «Ich habe mittlerweile Daten dazu, wie viele Kitze die einzelnen Ricken jedes Jahr werfen, wie sich das Gehörn von Böcken entwickelt, wohin die Tiere abwandern und manchmal auch, woran sie sterben», berichtet Stäger nicht ohne Stolz. Denn über das Reh wisse man erstaunlich wenig. Umso mehr Daten sammelt Stäger und wertet sie in kleinen Berichten und Statistiken aus. Letztes Jahr hat er sein 1000. Tier markiert. Damit ist die lokale Rehpopulation wohl die mit den meisten markierten Individuen in der Schweiz.
Dass Martin Stäger so viele Tiere markieren konnte, liegt daran, dass er im Mai und Juni die meiste Zeit im Wald verbringt. «In anderen Teilen der Schweiz werden Rehe nur während der Rehkitzrettung markiert. Ich suche daneben noch aktiv nach Kitzen», so Stäger.Dafür reduziert der Tierarzt in dieser Zeit sein Arbeits-pensum und stapft den Rest des Tages durch die Wälder in seinem Revier. «Das erste Kitz wird meistens so um den 1. Mai gesetzt», berichtet Stäger. Und das in den letzten Jahren immer von derselben Ricke. Stäger kennt seine Rehe gut. Umso mehr bedauert er es, dass die Rückmeldedisziplin von geschossenen und gefundenen markierten Rehen in benachbarten Revieren leider oft zu wünschen übrig lässt. «Durch konsequentes Melden würde ich noch mehr Informationen bekommen, insbesondere natürlich über die Todesursache.» Stäger mutmasst, dass manche Jäger denken, dass anderswo markierte Tiere nicht geschossen werden dürften. «Diese sind zumindest in Luzern jedoch ein ganz normaler Teil der Wildtierpopulation.»
Ein Kitz kommt selten allein
Wenige Meter neben dem ersten findet Martin Stäger ein zweites Kitz im Unterholz. «Rehe bekommen meistens Zwillinge, daher lohnt es sich, jeweils nach dem Geschwisterchen zu suchen», erklärt Stäger. Auch das zweite Kitz bekommt eine individuelle Ohrmarkierung, bestehend aus einer Nummer und einer Farbkombination. So sind die Tiere auch auf den Kamerabildern voneinander zu unterscheiden. Die Ohrmarken würden sich nicht negativ auf die Überlebensrate der Kitze auswirken, so Stäger. Das weiss er von den zahlreichen Beobachtungen der markierten Tiere in den Monaten danach. «Grundsätzlich sterben etwa die Hälfte der Kitze im ersten Jahr, egal, ob markiert oder nicht», erklärt der Jäger. Nebst Krankheiten und Unfällen sei es auch der Fuchs, der den Kitzen den Tod bringt. Für das Berner Mittelland wird geschätzt, dass ein Fuchs zwischen Mai und Juli durchschnittlich elf Kitze erbeutet. Nur bei hohem Schnee, der die Rehe bei der Fortbewegung behindert, erbeutet ein Fuchs auch schon mal ein ausgewachsenes Tier. Die Hauptfressfeinde von adulten Rehen sind der Luchs und der Wolf. Letzterer kommt bei uns nach wie vor selten vor, aber der Luchs reisst jährlich etwa vier Prozent des Rehbestandes in der Schweiz.
Trotzdem ist die Rehdichte mit 20 Tieren pro Quadratkilometer in der Schweiz überdurchschnittlich hoch. Entsprechend gehört es auch zu dem am meisten bejagten Wild überhaupt. 2021 wurden laut Jagdstatistik in der ganzen Schweiz rund 43'000 Rehe geschossen. Als zweit wichtigste, nicht natürliche Todesursache bei Rehen steht der Strassenverkehr. Laut Bundesamt für Statistik fielen ihm im Jahr 2021 8300 Rehe zum Opfer, weitere 585 Tiere wurden von einem Zug erfasst. Erwähnenswert ist zudem, dass jährlich über 300 Rehe von Hunden gerissen werden. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein.
Um Kitze im Wald zu finden, nutzt Martin Stäger neben seiner Erfahrung, wo sich die Ricken aufhalten, auch ein kleines Hilfsmittel: eine Kitzfiepe. Diese Pfeife erzeugt einen Ton ähnlich dem Kontaktlaut eines hungrigen Kitzes. Befindet sich eine Ricke in der Nähe, die Junge hat, so kann Stäger sie damit anlocken. «Eine Ricke, die keine Kitze hat, würde nicht auf die Fiepe reagieren», erklärt er. In Notfall stossen Kitze einen hellen, schrillen Laut aus, den die Mutter herbeieilen und den Nachwuchs verteidigen lässt. Katzen, Füchse und Hunde werden mit Vorderlaufschlägen der Ricke in die Flucht geschlagen. Solche Huftritte hat Martin Stäger noch nicht abbekommen.
Seine Markierungsarbeit macht er freiwillig und unbezahlt. «Mich haben Rehe schon immer am meisten interessiert. Ich will möglichst viel über sie wissen! So wie ein Bauer seine Kühe kennt, so will ich meine Rehe kennen», schwärmt der Jäger. Er selber hat bisher noch kein markiertes Reh geschossen.
Der Bambi-Irrtum
Jeder kennt wohl den rührenden Disney-Film um das Rehkitz Bambi, dessen Mutter von Jägern geschossen wurde. Doch halt, bei Bambi handelt es sich im Film nicht um ein Rehkitz, sondern um das Kalb eines Weisswedelhirschs. Die Geschichte spielt hier in Nordamerika, wo keine Rehe vorkommen. Das Buch, auf dem der Film basiert, stammt vom österreichischen Schriftsteller und Jäger Felix Salten. Darin handelt es sich bei Bambi jedoch tatsächlich um ein junges Reh. Der Disney-Film löste insbesondere bei der Jägerschaft der USA Entrüstung aus, da diese sich durch den Film diskreditiert sahen. Die Tatsache, dass Autor Felix Salten selber Jäger war, änderte nichts daran. Sowohl Salten als auch Disney ging es darum, die Menschen vor dem sorglosen Umgang mit der Natur und ihren Geschöpfen zu warnen, weniger darum, eine «Anti-Jagd-Propaganda» zu führen.
Weisse Rehe
Nebst den klassisch rot-braunen Rehen treten selten komplett weisse Tiere auf. Albinos haben dabei nebst dem weissen Fell auch rote Augen und Nasen. Sind Letztere dunkel, so handelt es sich bei weissen Rehen um Tiere mit einer Pigmentstörung. Ungeachtet der Ursache für ihre besondere Fellfarbe unterliegen weisse Rehe immer einem gewissen Mythos – und Schutz. In Schweizer Jägerkreisen gilt es als verpönt, ein weisses Reh zu schiessen, auch wenn es nach Jagdgesetz erlaubt wäre.
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Rehkitzmarkierung Schweiz
In der ganzen Schweiz werden seit den 1960er-Jahren Daten über Rehe gesammelt, die eigens dafür mit Ohrmarken versehen werden. Seitdem werden in verschiedenen Kantonen von Jägern und Wildhütern Kitze markiert und der Fundort, Alter und Geschlecht an eine zentrale Stelle übermittelt. Das entsprechende Material gibt das Bundesamt für Umwelt (Bafu) an die Beteiligten heraus. Koordinationsstelle für die Rehkitzmarkierung ist seit 2012 «Wildtier Schweiz». Bei tot aufge-fundenen oder bei der Jagd erlegten Rehen werden Daten wie Ort und Todesursache erhoben und die individuellen Einträge im zentralen Register entsprechend ergänzt. Mithilfe der Daten können zum Beispiel Rückschlüsse zum Verhalten und der Demographie der Tiere gezogen werden. So entstand bis heute ein einzigartiger Langzeitdatensatz zur Biologie der Schweizer Rehe.
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