Der Weg zu den Naturschätzen der SBB führt nach oben. Drei Leitern hoch, bis aufs Dach der Logistikhalle der Serviceanlage Oberwinterthur, in der Zugskompositionen der S-Bahn Zürich gereinigt und gewartet werden. Vom Hallendach aus bietet sich ein Blick ins Grüne: auf zwei Fussballplätze, auf Wiesen, auf Wälder. Das Dach selber allerdings gleicht eher einer Steinwüste als einer grünen Oase.

«Gerade das macht diesen Lebensraum wertvoll», sagt Randolf Koch, Umweltspe­zialist bei der Division Infrastruktur der SBB. Das Dach, so unscheinbar es aussieht, ist ein Vorzeigeprojekt des Bahnunternehmens, wenn es um ökologische Ausgleichsmassnahmen geht. Koch zeigt auf die grau-braune Fläche, aus der hier und da ein paar grüne Blättchen oder vertrocknete Pflanzenstängel ragen. «Wir haben hier drei verschiedene natürliche Substrate verwendet: Sand, Kies und einen lehmigen Kies.» Letzterer ist der Aushub, der abgetragen wurde, als die Halle im Jahr 2012 gebaut wurde. Weil dabei eine Magerwiese und Ruderalflächen verloren gingen, mussten die SBB entsprechenden Ersatz schaffen – und taten dies auf dem Dach.

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Die «Spinnenleiter» ermöglicht Kleintieren den Weg aufs Dach der
SBB-Serviceanlage in Oberwinterthur.
  Bild: Simon Koechlin

Eine Kletterhilfe im XXL-Format
Solch karge Flächen entsprechen vielleicht nicht dem Bild, das sich der Mensch von wertvollen Naturräumen macht. Aber sie bieten vielen und oft seltenen Arten einen Lebensraum. Auf dem Hallendach in Oberwinterthur etwa fand ein Ökobüro ein Jahr nach der Begrünung 57 Pflanzenarten. Das sei auch die Folge des eher spärlichen Bewuchses, erklärt Randolf Koch. «So kann keine Art überhandnehmen und alles überwuchern.»

Auch Tiere haben sich in der luftigen Höhe häuslich eingerichtet. Um zwei dicke Holz­rugel herum schwirren ein paar Wildbienen und nehmen die Löcher in Augenschein, die ihnen der Mensch als Nistgelegenheiten ins Holz gebohrt hat. Und auf einmal fliegt etwas Helles heran und setzt sich auf den Kies: Es ist eine Blauflügelige Sandschrecke – eine Heuschrecke, die sich an spärlich bewachsenen Standorten wohlfühlt und in der Schweiz als verletzlich gilt.

Bienen und Heuschrecken sind gute Flieger. Für sie ist es kein Problem, auf ein Flachdach zu gelangen. Doch was ist mit anderen Tieren? Auch an sie haben die SBB gedacht. An der Stirnseite der Halle führt eine gewaltige Holzkonstruktion in die Tiefe, an der sich Efeupflanzen emporranken. Es handle sich um eine Aufstiegshilfe für Kleintiere, erklärt Koch. Weil das Konstrukt aussieht wie eine Art Leiter mit Sprossen aus armdicken, meterlangen Ästen, trägt es bei den Mitarbeitern der Serviceanlage auch den Namen «Spinnenleiter». 

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Wildbienenhäuschen und Steinkörbe bieten Insekten und
Eidechsen Unterschlupf bei Herdern in Zürich.
  Bild: Simon Koechlin

Kritik an der Böschungspflege
Ausgleichsmassnahmen wie in Oberwinterthur sind nur ein Beispiel dafür, wie Pflanzen und Tiere auf SBB-Arealen Lebensräume erhalten. Ende Juni hat das Unternehmen eine «Naturkampagne» lanciert, in der es auf seine Bemühungen zur Förderung der Artenvielfalt aufmerksam macht. 

Die SBB verweisen zum Beispiel auf Wildtierkorridore wie jenen zwischen Rupperswil und Aarau im Suhret-Wald. Auf das Areal des künftigen Gateway Basel Nord, in dem Schlingnattern oder Gottesanbeterinnen leben. Oder auf die Böschungen und Gehölze entlang des rund 3000 Kilometer langen Schienennetzes. Sie sind so gross wie 7200 Fussballfelder und durchziehen die Schweiz wie ein grüner Korridor. «Zahlreiche Tiere und Pflanzen finden dort Lebensraum, darunter beispielsweise zehn einheimische Orchideenarten», schreiben die SBB.

Roland Schuler, Mediensprecher der Naturschutzorganisation Pro Natura, anerkennt die Bemühungen der Schweizerischen Bundesbahnen punkto Umweltschutz. «Das Unternehmen ist sich seiner Verantwortung der Natur gegenüber bewusst. Es unternimmt einiges», sagt er. In einigen Bereichen gebe es aber grosses Verbesserungspotenzial. «Gerade der Böschungspflege stehen wir sehr kritisch gegenüber.» Bei Bahnböschungen handle es sich oft um sehr wertvolle Lebensräume wie Magerwiesen, einige lägen sogar in geschützten Gebieten. Darum müssten sie sorgfältig und fachgerecht gepflegt werden. Oft lassen die SBB allerdings zum Beispiel das Schnittgut als Mulch einfach liegen, statt es zu entfernen. «Dadurch verschwinden lichtkeimende Pflanzen wie seltene Orchideen», sagt Schuler. 

Die SBB haben für die Böschungspflege eine Leistungsvereinbarung mit dem Bund und erhalten dafür entsprechende finanzielle Mittel. Diese Mittel seien aber in erster Linie dafür bestimmt, einen sicherheitstechnisch einwandfreien Bahnbetrieb zu gewährleisten, schreibt das Unternehmen auf Anfrage. Einmal im Jahr würden sämtliche Böschungen gemäht oder gemulcht. In national geschützten Gebieten werde auf einer Fläche von ungefähr 40 Fussballfeldern das Schnittgut nach dem Mähen abgeführt, um die Wiesen mager zu halten. Zudem bestünden auf regionaler Ebene einzelne Vereinbarungen oder Pachtverträge mit Organisationen oder Kantonen, um naturschützerisch interessante Flächen möglichst naturgerecht zu pflegen.

Mauereidechse und Gelbbauchunke
Ein weiteres Projekt der SBB-Naturkampagne ist das Gleisfeld zwischen dem Hauptbahnhof Zürich und Zürich-Altstetten. Wie in Oberwinterthur werden hier Züge gewartet: in der Serviceanlage Herdern, der längsten Werkstätte der Schweiz. In die 420 Meter lange Halle passen ganze Zugskompositionen. Das kaum enden wollende Dach teilen sich Pflanzen und Solarzellen – wobei die Dachbegrünung ihrem Namen eher Ehre macht als jene in Oberwinterthur. Die Pflanzen blühen in allen Farben und wachsen dicht an dicht.

Das Gleisfeld selbst erscheint von oben wie eine trostlose Wüste aus Schotter und Schienen. Doch das Areal ist wegen seiner Naturnähe mit dem Label der Stiftung Natur & Wirtschaft ausgezeichnet worden – weil die SBB mit vielen kleinen Massnahmen Lebensräume für Pflanzen und Tiere geschaffen haben. Kaum 20 Meter vom Eingang der Service­anlage entfernt liegt ein kleiner Tümpel. Solche Gewässer, die immer mal wieder austrocknen, sind laut den SBB-Verantwortlichen ideal für die Gelbbauchunke. Gleich nebenan steht ein halbes Dutzend liebevoll gefertigter Wildbienenhäuschen und in unmittelbarer Nähe sind einige Steinkörbe mit frostsicheren Bereichen unter der Erdoberfläche, die Unterschlüpfe für Mauereidechsen bieten. Auch die Blauflügelige Sandschrecke findet sich hier wieder: Die offenen Flächen mit wenig Vegetation, dafür viel Sand und Kies sind genau richtig für sie. Der Rangierlärm gleich nebenan scheint sie nicht zu stören.