Herr Lozza, der Winter ist hinsichtlich der milden Temperaturen extrem. Wie haben Sie ihn im Schweizerischen Nationalpark erlebt?
Hans Lozza: Zuerst merkten wir hier von dieser Entwicklung nichts. Im Gegenteil, zwischen November und Weihnachten hatten wir rekordverdächtig viel Schnee. Nach den Festtagen veränderte sich die Situation. Plötzlich gab es keine Niederschläge mehr. Das Engadin ist ja eigentlich bekannt für seine kalten Tage und Nächte. Doch seit anfangs Januar ist es auch bei uns aussergewöhnlich trocken und die Temperaturen liegen um drei Grad über dem langjährigen Durchschnitt.

Sind Sie über diese Messungen beunruhigt?
Durchaus. Wir beobachten den Klimawandel und die Diskussionen darüber schon lange. Diverse Forschungsprojekte im Schweizerischen Nationalpark zeigen eins zu eins, zu welchen Veränderungen der Klimawandel führt.

Was haben Sie beobachtet?
In den Gebirgsregionen sind die Auswirkungen eines milden Winters zwar weniger stark, als man annehmen könnte. Nach zwei strengen Wintern ist die Situation für die Steinböcke und Gämsen diesen Winter komfortabel. Wenn oberhalb der Waldgrenze kein oder nur wenig Schnee liegt, ist es für sie einfacher, Futter zu finden. Umso mühsamer wird es für sie aber dafür in Gebieten, in denen viel Schnee liegt und in denen es mehr regnet als früher – so wie vor zwei Jahren.

Inwiefern ist die Situation für die Tiere schwieriger?
Durch das Wasser entstehen Eisschichten und Eislamellen in der Schneedecke. Sie erschweren die Fortbewegung und führen zu mehr Abstürzen in steilem Gelände. Zudem wird es immer schwieriger, an Futter zu kommen, wenn sich durch wiederholtes Frieren und Tauen eine dicke Eisschicht bildet. Wie hoch die Fallwild-Rate sein wird, zeigt sich erst im Frühjahr, denn der Winter dauert noch an. Gravierender sind die Folgen der Erwärmung allerdings wohl im Sommer.

Wegen der Nahrungssuche?
Ja, denn man muss bedenken, dass die Jungtiere ungeachtet der Temperaturveränderungen nach wie vor im Frühling zur Welt kommen. Dank des milden Winters wächst die Vegetation rascher als früher. Auf den ersten Blick mag das ein Vorteil sein, weil die Jungtiere nach der Geburt genug Futter finden. Doch infolge der hohen Juni-Temperaturen wie im letzten Jahr verdorren die zarten Pflanzen an sonnigen Standorten früher.

Wie reagieren die Tiere?
Junge Steinböcke benötigen frisches Grünfutter, da sie reifes, faserreiches Futter schlecht verdauen können. Ist nun die Vegetation früher reif, müssen die Geissen und Kitze in höhere Lagen ausweichen, wo die Vegetation noch frischer ist. Dort geraten sie allerdings in Nahrungskonkurrenz mit den Böcken. Dies alles führt zu einer schlechteren Konstitution der Kitze. Die Folgen davon zeigen sich im nächsten Winter in Form einer höheren Sterberate bei den Jungtieren.

Die Vielfalt hat zwar nicht abgenommen. Doch die Artenzusammensetzung hat sich verändert.

Hans Lozza
Schweizerischer Nationalpark

In weiten Teilen der Schweiz erwartet man wegen des milden Klimas eine massive Ausbreitung von Borkenkäfer und Co. Wie sieht es im Nationalpark aus?
Der Borkenkäfer dürfte für uns kein Problem werden, da er weniger Generationen ausbilden kann als im Unterland. Im Winter sinken die Temperaturen bei uns unter Null, was dazu führt, dass sich im Schnitt nur zwei Generationen der Insekten entwickeln können. Das reicht nicht für eine Massenausbreitung. Wir erwarten aber, dass wegen des Klimawandels neue Insektenarten einwandern werden. Diesen Prozess beobachten wir gespannt.

Wie sieht es bei den Wildbienen aus?
Bei den Wildbienen sind wohl der Rückgang der Biodiversität und der Einsatz von Insektiziden problematischer als der Klimawandel. Für die Bienenzüchter war 2019 im Engadin witterungsbedingt ein Rekordjahr. Im Mai war es noch kalt, doch danach wurde es blitzartig warm, und es gab keinen Kälteeinbruch mehr. Für die Bienen waren das paradiesische Zustände. Im Nationalpark finden auch Wildbienen einen intakten Lebensraum. Wir überlassen ja die Natur komplett sich selbst. Der Schweizerische Nationalpark ist ein grosses Freiluftlaboratorium.

Was haben Sie in ihm in Bezug auf die Vielfalt der Schmetterlinge beobachtet?
Dass es auch hier, wie bei allen Insekten, natürliche Schwankungen gibt, auch in den vom Menschen unbeeinflussten Lebensräumen. In der Schweiz existieren 200 Arten von Tagfaltern. 100 davon leben im Nationalpark. Eine Studie, die vor 100 Jahren erschienen ist, dokumentierte bereits damals dieselbe Anzahl Arten.

Waren es dieselben wie heute?
Teilweise. Der Klimawandel hat dazu geführt, dass gewisse arktische Arten, die es eher kalt mögen, in die höheren Lagen gestiegen oder verschwunden sind. Dafür sind andere Arten aus tieferen Lagen hinzugekommen. Mit anderen Worten, die Vielfalt hat zwar nicht abgenommen. Doch die Artenzusammensetzung hat sich verändert.

Erwarten Sie eine weitere Wanderung in immer höher gelegene Gebiete?
Das Höhersteigen der Arten beobachten wir tatsächlich, und regelmässige Zählungen bestätigen diese Beobachtung, etwa beim Schneehuhn. Wir wissen, dass es heute im Durchschnitt in 120 Metern höher gelegenen Gebieten lebt als noch vor 30 Jahren.

Kann das auf die Länge gut gehen?
Diese Frage stellen wir uns auch. Gewisse Arten wie das Schneehuhn gelangen mit dem Anstieg der Temperaturen immer mehr unter Druck. Andere Tiere, wie beispielsweise die Gefleckte Schnirkelschnecke, leben heute in durchschnittlich 146 Meter höheren Lagen als vor 100 Jahren. Wie alle anderen muss sie sich an die Klimasituation anpassen, was nur bis zu einem gewissen Grad funktioniert. Das Problem ist die Geschwindigkeit des Wandels. Nicht alle Arten können sich so rasch anpassen. Zum Glück bieten Gebirge mit ihrer Mikrotopografie vielen Arten Unterschlupf.

Beitrag über den Schweizerischen Nationalpark in «Netz Natur»

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Was bedeutet das?
Es gibt Felsen, Wiesen, Hügel, kalte und sehr warme Stellen. Die einen sind exponiert, andere sind geschützt. Das lässt ein lokales Mikroklima entstehen, das vielen Arten geeignete Lebensräume bietet. Um auf das Schneehuhn zurück zu kommen: Es sucht sich einfach die kältesten Standorte innerhalb des Gebietes aus.

Wir haben bisher über die Tiere gesprochen. Wie gehen die Pflanzen mit den veränderten Klimaverhältnissen um?
Interessant ist, dass es auf den Gipfeln im Nationalpark oberhalb von 3000 Metern 44 Prozent mehr Arten gibt als noch vor 100 Jahren.

Das tönt auf den ersten Blick positiv.
Ja, allerdings steigen Allerwelts-Arten wie der Löwenzahn immer höher. Allmählich verdrängen sie die Hochgebirgsspezialisten, die bisher in diesen Lebensräumen heimisch waren. Es ist zu erwarten, dass die kälteliebenden und konkurrenzschwachen Arten teilweise verschwinden werden. Die Vegetation wird sich weiter verändern, wobei Pflanzen weniger mobil sind als Tiere. Übrigens, auch die Baumgrenze steigt an. Wir beobachten, dass es immer mehr Einzelbäume auf über 2500 Metern gibt.

Was denken Sie über diese Beobachtungen?
Sie besorgen mich. Und sie müssen uns alle nachdenklich machen. Denn noch immer gibt es Leute, die den Klimawandel leugnen. Was wir hier sehen, spricht eine andere Sprache. Daher ist es uns wichtig, die Veränderungen laufend zu dokumentieren und allen zugänglich zu machen.

Zusammenfassung und laufende Ergänzung der Beobachtungen:
www.nationalpark.ch/klimawandel
www.nationalpark.ch/biodiversitaet

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Zur Person
Hans Lozza, 55, ist Leiter Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit des Schweizerischen Nationalparks.