Der Reitanfänger macht sich noch nicht viele Gedanken über die Bewegungsabläufe des Pferdes. Er lässt sich auf dessen Rücken tragen und hat schon allerhand damit zu tun, sein Gleichgewicht zu finden. Doch sobald er gelernt hat, unabhängig zu sitzen und auf das Pferd einzuwirken, wird er früher oder später in einer Reitstunde oder auf einem Lehrgang den Satz hören: «Das Pferd muss über den Rücken geritten werden!»

Doch was heisst und bedeutet dieser Fachausdruck? Ähnlich wie beim Menschen ist auch beim Pferd der Rücken das Bewegungszentrum im Körper und verlangt besondere Aufmerksamkeit. Denn obwohl ein Pferd­rücken so einladend aussieht und Pferde seit Jahrtausenden als Reittiere genutzt werden, hat die Natur das nicht so vorgesehen: Pferde sind von ihrem Körperbau her nicht dafür geschaffen, Lasten zu tragen.

Sie können aber lernen, das Gewicht einer Reiterin in allen drei Gangarten zu tragen, ohne dabei körperliche Schäden davonzutragen. Wie das geht, wissen Pferde nicht von sich aus. Das Ziel ihrer Ausbildung ist es daher, sie so zu trainieren und zu reiten, dass sie den Menschen rückenschonend und ohne Einschränkung in seinen Bewegungen tragen können.

Um zu verstehen, wie das funktioniert, kommt man um ein bisschen Anatomie nicht herum. Dazu stellt man sich zunächst einmal das Skelett des Pferdes als Hängebrücken-Konstruktion vor: Die Vorder- und die Hinterbeine bilden die beiden Brückenpfeiler, dazwischen «aufgehängt» ist die bewegliche Wirbelsäule. Setzt sich nun eine Reiterin oder ein Reiter auf die Wirbelsäule eines untrainierten Pferdes, dann hängt diese Brücke erst einmal durch: Das Ross drückt seinen Rücken nach unten weg. Wird es nun über längere Zeit so geritten, kommt es zu Schäden an der Wirbelsäule.

Die «obere Verspannung» trägt
Die kräftige Rückenmuskulatur, die in zwei langen Strängen seitlich entlang der Wirbelsäule verläuft, ist auch nur bedingt dazu in der Lage, das Reitergewicht zu tragen. Sie ist das Bindeglied zwischen Vor- und Hinterhand, verläuft waagrecht im Körper und leitet die Kraft und Energie aus der Hinterhand nach vorne. Die längs arbeitenden Rückenmuskeln sind deshalb auch nicht dafür geeignet, das senkrecht von oben einwirkende Reitergewicht zu tragen. Müssen sie es trotzdem tun, weil das Pferd nicht über den Rücken geritten wird, ermüden sie bei längerer Belastung und verspannen sich.

Eine verkrampfte Rückenmuskulatur wirkt sich direkt auf die Beweglichkeit der Beine und damit das Gangbild des Pferdes aus. Die Bewegung «fliesst» nicht mehr durch seinen Körper hindurch. Daraus resultieren Fehlhaltungen: Das Pferd nimmt seinen Kopf hoch oder rollt ihn ein und es schlurft oder macht kurze, gebundene, oft taktunreine Schritte. Langfristig ist das für den Bewegungsapparat schädlich.

Es drohen krankhafte Veränderungen an den Gelenken und Knochen. Auch die Psyche des Pferdes leidet, wenn es die Reiterin nur noch unter Schmerzen tragen kann. Es reagiert dann mit einer Reihe von Abwehrmassnahmen – zum Beispiel lässt es sich nur noch widerwillig putzen und satteln oder wehrt sich beim Reiten durch Zähneknirschen, Kopf- oder Schweifschlagen, Bocken, Losrennen oder extreme Triebigkeit.

Das Pferd ist aber durchaus in der Lage, das schwere Gewicht des Brustkorbs und seiner inneren Organe zu tragen, die unterhalb der Wirbelsäule «hängen» und kräftemässig wie das Reitergewicht von oben nach unten wirken. Das ermöglicht zum einen die starke Bauchmuskulatur, zum anderen die sogenannte «obere Verspannung». Die gesamte Oberlinie des Pferdes ist durch ein starkes, sehniges Nacken-Rückenband verbunden, das vom Hinterhauptbein über den Hals zu den Dornfortsätzen des Widerrists und des Rückens führt. Senkt das Pferd den Kopf, wie das zum Beispiel in seiner natürlichen Fresshaltung der Fall ist, werden der Nackenstrang gespannt und die Dornfortsätze leicht nach vorne gezogen.

Dadurch spannt sich auch das Rückenband. Die Wirbelsäule wölbt sich leicht auf, und es kommt zu einer festen, aber trotzdem elastischen Stabilisierung der «Brückenkonstruktion». Dann sagt man, das Pferd «trägt sich selbst» oder «es geht über den Rücken» oder der Rücken «schwingt» in der Bewegung. Tritt das Pferd mit aktiver Hinterhand unter den Schwerpunkt, geht fleissig und im Takt vorwärts, hebt sich der Widerrist. Der lange Rückenmuskel kann dabei frei arbeiten und wirkt ein bisschen wie ein Trampolin, welches das Gewicht des Reiters sanft in die Bewegung mitnimmt und abfedert.

Die Muskulatur gezielt kräftigen
Durch ein gezieltes Training der Hals-, Rücken- und Rumpfmuskulatur wird die Tragfähigkeit des Pferdes im Verlauf seiner Ausbildung aufgebaut und stetig verbessert. Das Ross kann sich nicht nur selber, sondern auch den Reiter besser und schonender tragen. Das junge oder untrainierte Pferd lernt unter der Reiterin in der Dehnungshaltung seinen Rücken aufzuwölben. Auch später in der Ausbildung wird das ganze Muskelsystem weiter optimal gekräftigt, wenn das Pferd im Vorwärts-Abwärts «an die Hand heran» tritt.

Effektiv ist ein Wechselspiel aus Dehnen und Wiederaufnehmen im fleissigen Arbeitstrab, weil dadurch Rumpfbeuger und -strecker gut trainiert werden. Galopparbeit im leichten oder entlastenden Sitz ist ebenfalls gut für die Bauchmuskulatur.

Ein Pferd, das über den Rücken geht, sieht «zufrieden» aus, es ist losgelassen, entspannt und atmet gleichmässig. Der Hals fällt locker aus dem Widerrist und der Schweif pendelt mit der Bewegung mit. Der Vierbeiner ist konzentriert bei der Sache und reagiert fein auf die Hilfegebung seines Reiters, der gut zum Sitzen kommt. Lektionen und Übergänge – sei es innerhalb der Gangarten oder von der einen in die andere – gelingen dann weich und mühelos. Flotte Ausritte im Gelände bringen Abwechslung in den Trainingsalltag. Vor allem das Bergauf- und Bergabreiten kräftigt die Muskeln und den Rücken optimal. Auch mit Cavalettis und Stangenarbeit lassen sich gute Ergebnisse erzielen. 

Durch das korrekte Reiten werden Pferde im Verlauf ihrer Ausbildung nicht nur leistungsfähiger, sondern auch schöner. Sie entwickeln eine gleichmässige Oberlinie und Muskeln an den richtigen Stellen, die ihnen helfen, ihre Aufgaben unter der Reiterin mit spielerischer Leichtigkeit auszuüben und schädliche Fehlbelastungen zu vermeiden. Ist das Pferd in der Lage, ehrlich über den Rücken zu gehen, ist seine Grundausbildung abgeschlossen. Beim Sportpferd beginnt dann die weitere Förderung. Wer mit seinem Vierbeiner vorwiegend schöne, entspannte Ausritte im Gelände unternehmen möchte, der braucht keine Piaffen und Passagen zu üben. Aber auch sein Pferd muss in der Lange sein, sich korrekt über den Rücken zu bewegen, damit es seinen Reiter schadlos tragen kann.