«Die Pflanzen waren bereits da. Der Garten ist zu ihnen gekommen», sagt der Botaniker Adrian Möhl. Vor ihm leuchten Blüten der Goldprimel, im Hintergrund verziehen sich die letzten Wolkenfetzen am Matterhorn.

Am 12. Juli 2024 eröffneten auf 2800 Meter über Meer Vertreter der Gornergratbahn und Adrian Möhl den höchstgelegene Alpingarten Europas. Er ist frei zugänglich und liegt auf dem Rotenboden, der zweitletzten Station der Walliser Gornergratbahn. Wendelin Schwery, Produktmanager der Bahn, erzählt: «Die Idee nahm vor vier Jahren ihren Anfang, als wir Adrian Möhl anfragten, ob er es für möglich halte, in dieser Höhe einen Alpingarten einzurichten.» Bisher hätten sie lediglich negative Meldungen von Spezialisten erhalten. Zu hoch, zu harsches Klima, hiess es. Adrian Möhls Antwort damals machte Hoffnung: «Es ist nicht unmöglich, man muss mit den Arten arbeiten, die hier wachsen.»

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Möhl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Botanischen Gartens Bern, arbeitet bei Info Flora, einer Stiftung, welche die Pflanzen der Schweiz dokumentiert, und fördert und betreut als Wissenschaftler den Alpengarten auf der Schynigen Platte im Berner Oberland. Wenn er über Wildpflanzen und besonders über die Vegetation am Gornergrat spricht, leuchten seine Augen. Er schwärmt: «Einem Botaniker muss diese Welt hier ans Herzen wachsen.»

Der Pflanzenexperte bestimmte in einer ersten Bestandsaufnahme auf dem etwa 5000 Quadratmeter grossen Gelände 150 Arten. Er ruft: «Das ist enorm!» Zum Vergleich: Auf einer artenreichen Wiese im Mittelland gedeihen im Durchschnitt zwischen 30 und 40 Arten. Der Botaniker Möhl erzählt: «Ich kenne das Gebiet seit meiner Studentenzeit und staune immer wieder, wie unglaublich vielfältig die Region ist.» Schon vor 15 Jahren führte er hier Botanikkurse durch. Auch Jakob Graven aus Zermatt nahm daran teil. Seit Kindheit beschäftigt er sich mit Alpenpflanzen und absolvierte erfolgreich Bestimmungskurse. Der Naturfreund betreut den Alpingarten als Spezialist vor Ort.

Lärche auf 2800 Meter über Meer

Adrian Möhl bückt sich und identifiziert innert Kürze auf einem Quadratmeter Fläche 20 Alpenpflanzen-arten. Der Kenner führt den Artenreichtum auf die spezielle Geologie zurück. In erdgeschichtlicher Zeit prallten die afrikanische und die europäische Platte aufeinander, sodass sich die Alpen aufschichteten. Bei diesem Prozess vermischten sich im Matterhorngebiet Gesteinsarten. Adrian Möhl zeigt auf grünliche Einschlüsse in Felsen und sagt: «Das weist auf Serpentin hin.» Eisenhaltiges Gestein macht er aufgrund rostfarbener Stellen aus. Die Mischung von saurem und kalkhaltigem Boden bietet ganz verschiedenen Pflanzenarten eine Lebensgrundlage. Eine weitere Besonderheit des Gebiets: Während der Eiszeiten ragten die Gipfel aus Schnee und Eis heraus. Dies ermöglichte das Überleben von Reliktpopulationen.

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Plötzliches Rattern und Zischen. Eine Zahnradbahn keucht von Zermatt her den Berg hinauf, hält mit einem Ruck, die Türen öffnen sich. Touristen strömen heraus. «An guten Tagen machen hier 3000 Leute Halt», kommentiert Wendelin Schwery. Der Bahn sei es ein Anliegen, die Besucherströme zu lenken. Die meisten möchten hinunter zum Riffelsee, um das sich darin spiegelnde Matterhorn zu fotografieren. Der Botaniker Adrian Möhl sagt: «Dank des Eingangstors, der Wege und der Beschilderung realisieren die Leute, dass hier besondere Pflanzen wachsen.» Vorher seien sie gruppenweise darüber hinweggewandert. «Nicht böswillig, sie haben das Kleine, Besondere einfach nicht wahr-genommen.» Der Prozess zwischen Botaniker und Bahn sei etwas Besonderes. Adrian Möhl bezeichnet ihn als Symbiose. «Beide profitieren voneinander.» Die Gornergratbahn hat die Auslagen für den Alpingarten finanziert. Dazu gehören auch Schilder mit den Namen der Pflanzen. Über einen QR-Code kommen interessierte Handybesitzer zu mehr Informationen.

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Die blau schillernden Gletscher und die mächtige Alpenkulisse mit dem charakteristischen Matterhorn kontrastieren mit den kleinen, unscheinbaren Pflanzen. Doch wenn Adrian Möhl von ihnen erzählt, werden sie zu Persönlichkeiten. Er rät: «Für diesen Garten ist Zeit wichtig, damit Entdeckungen gelingen. Vieles hier in dieser stillen Welt drängt sich nicht auf.» So wie die Lärche. Adrian Möhl steht im unteren Teil des abschüssig gelegenen Alpingartens und sagt: «Ein Baum auf 2800 Meter Höhe ist etwas Enormes. Bestimmt handelt es sich um eine der höchstgelegenen Lärchen im Alpenbogen.» Im Mikroklima einer Felsspalte entfaltet sich vor ihm das zarte Hellgrün. «Die Vegetationszeit der Pflanzen hier ist sehr kurz, bereits im August kann wieder Schnee fallen.»

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Alpenpflanzen im Konkurrenzkampf

Die Lärche ist nicht der einzige Baum des neuen Alpingartens. Es ist fast nicht zu glauben, aber den grünen Teppich, der von Weitem wie ein Moos aussieht und über Gestein und Erdflächen wuchert, bestimmt Adrian Möhl als Quendelblättrige Weide. Er zeigt auf die winzigen Weidenkätzchen. «Der Baum hier ist vielleicht 80 bis 90 Jahre alt und überdauert die meisten Monate des Jahres unter einer Schneedecke.»

Gleich daneben lugt aus Felsritzen die Gefranste Segge. Der Alpingarten am Gornergrat ist eine der wenigen Stellen, wo diese Pflanze in der Schweiz wächst. «Viele Botaniker kommen hierhin, um sie zu sehen», streicht Adrian Möhl heraus. So sei es auch beim Zermatter Täschelkraut. «Die Art ist schweizweit einzigartig und gedeiht in der Nähe von Gestein, das mit der Geographenflechte überzogen ist.»

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Während einzelne Wolkenfetzen um das Matterhorn wabern, gleissen Sonnenstrahlen auf die Flanke mit dem Alpengarten. «Hier, ein Blütenmeer!», schwärmt der Botaniker und benennt Vergissmeinnicht, gelbblühende Nelkenwurz, Langspornige Stiefmütterchen und Goldprimeln. «Es sieht so friedlich aus, doch die Pflanzen haben einen Riesenstress.» Es gebe in dieser Höhe nicht viele Bestäuber, um die sie konkurrierten, die Witterung sei schwierig. Tagsüber wird es an sonnenexponierten Stellen heiss, in der Nacht sinkt die Temperatur manchmal unter den Gefrierpunkt. Die Pflanzen können ihren Standort nicht wechseln. «Hier oben müssen sie langfristig investieren, es sind Superspezialisten im Überleben.»

Viele Arten gedeihen darum an Stellen, wo der Schnee lange liegenbleibt und sie schützt. Nicht so die Faltenlilie. «Sie wächst an Windecken, wo Schnee weggeblasen wird», sagt Adrian Möhl, vor ihm das zarte Pflänzchen. Der Botaniker streicht den Vorteil dieser Strategie heraus: «Im Frühling ist sie die Erste, die blüht, die anderen sind noch von Schnee bedeckt.» Die Pflanzen haben die Wahl: entweder auf Nummer sicher gehen und von der isolierenden Schneeschicht profitieren oder auf Risiko spielen, dafür aber im Frühling die Ersten sein, die blühen.

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Ein Murmeli pfeift irgendwo aus der Steinlandschaft. Es weiss, vom Alpenklee muss es naschen, damit sich Fett für den langen Winter im Körper ansammelt. Im Gegensatz dazu hat es das Schneehuhn auf den Knöllchen-Knöterich abgesehen. Wenn die letzte Bahn abgefahren ist, haben sie den Alpingarten wieder für sich. Oder sie suchen sich die besonderen Pflanzen in der Nähe, dort, wo Menschen nicht hingelangen, immer im Angesicht des Matterhorns.

gornergrat.ch unter Alpingarten