Nubia hat ihre vier Beine entschlossen in den Boden gerammt. Ihr ohnehin schon langer Hals wird bei jedem Zupfer an der Führleine nochmals etwas länger. Die Flauschohren sind nach hinten gelegt, der Unterkiefer trotzig nach vorne geschoben. Gesichtsausdruck und Körpersprache lassen keine Zweifel offen: Die weisse Lamastute ist vom Vorhaben nicht überzeugt. Einen Schritt nach vorne über die blaue Plastikplane zu machen, scheint für sie nicht in Frage zu kommen. Beharrlich bleibt Nubia stehen. «Halte an deinem Plan fest, fokussiere deinen Blick und deine Gedanken nach vorne über die Plane hinweg», rät Tanja Burkolter. Und siehe da, nun zeigt sich die junge Lamadame bereit, das Abenteuer Plastikplane gemeinsam in Angriff zu nehmen. Schnell wird klar: Nur wer mit seinen Gedanken ganz im Hier und Jetzt ist und sich die Aufmerksamkeit des Tieres gesichert hat, bringt ein Lama dazu, ihm zu folgen. Ist das Tier erst einmal davon überzeugt, dass es der Führungsperson vertrauen kann und von ihr nicht in gefährliche Situationen gebracht wird, dann folgt es überallhin.

Kurz nachdem wir gemeinsam das raschelnde Ungetüm überschritten haben, spaziert Nubia gelassen am durchhängenden Führseil den Feldweg mit hoch. Die mit ihrem crèmefarbenen Fell und dem flauschigen Kopf ausnehmend hübsche Leitstute Catania und ihre auf-gestellte Besitzerin Tanja Burkolter bilden die Vorhut auf unserem Ausflug. Weder der lärmende Bagger noch ein begeistert auf sie zustürmender Junge bringen die beiden Lamastuten aus dem Konzept.

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Nubia und Catania gehören zur Lamatruppe von Tanja Burkolter und ihrem Lebenspartner Ernesto Romano. Im Freilaufstall des von ihnen gepachteten Hofes in Attiswil BE am Jurasüdfuss tummeln sich 23 Lamas. Die Wallache und Stuten leben gemeinsam in einer grossen Gruppe. Hengste gehören keine dazu. Die Zucht und der Verkauf von Lamas gehört nicht zum Geschäftsmodell ihres Betriebs mit dem Namen «amaLama», dafür aber zahlreiche andere Angebote. Jährlich leisten Tanja Burkolter und Ernesto Romano gemeinsam mit einem saisonalen Angestellten und den Lamas über 600 Einsätze. Von zweistündigen Spaziergängen bis zu mehrtägigen Trekkings mit den Lamas als Packtiere. Burkolter hat zudem eine Ausbildung im Bereich tiergestützte Intervention und eröffnet Menschen mit Beeinträchtigungen einen Zugang zu Tieren. Beliebt sind die Lama-Erlebnisse auch für Kindergeburtstage oder Schullager. Nicht nur in ganz jungen Jahren ist die Begegnung mit einem Lama eine lange nachhallende Erfahrung. Rund drei Mal die Woche klettern jeweils zwei oder sogar drei Lamas die Rampe des Pferdeanhängers hoch. Bis nach Luzern oder Interlaken reisen die Tiere, um älteren Personen im Pflegeheim einen Besuch abzustatten.

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Damit ein Lama ruhig neben einem Rollstuhl stillsteht und seinen Kopf senkt, um gestreichelt zu werden, bedarf es einiges an Training. Die Tiere kommen meist im Alter von einem Jahr zu Burkolter. Ein halbes Jahr später beginnt sie mit der Ausbildung. Wichtig sei, dass sich die Lamas am ganzen Körper berühren lassen, auf Aussenreize aller Art nicht gestresst reagieren und gut am Führseil mitgehen. Obwohl Lamas Fluchttiere sind, komme es kaum vor, dass sie panisch davonrennen. Ähnlich wie Esel taxieren sie erst die Situation und nehmen sich die Zeit, ihre Reaktion zu überlegen. Ein Erlebnis mit einer Gruppe beeinträchtigter Erwachsener habe ihr die Gelassenheit und Sensibilität der Lamas besonders schön vor Augen geführt, sagt die Betriebsleiterin von «amaLama». Kurz nachdem die Lamas aufgehalftert und dann ihren jeweiligen Begleitpersonen zugeteilt worden waren, brach eine Person unter einem Schwächeanfall zusammen. Den Führstrick hielt sie noch immer fest umklammert. Ihr Lama senkte ruhig den Kopf mit ihr zu Boden und legte sich schliesslich hin. «In einer Seelenruhe wartete die Lamaherde, bis der Besucher wieder zu sich kam», sagt die Fachfrau beeindruckt.

Lamas statt Erdbeeren

Wie Delfine vom Land. So beschreibt Tanja Burkolter das Wesen der Lamas. Neugierig, hochsensibel und ausgestattet mit einer grossen Gelassenheit. In diesen Charakterzügen könne sie sich wiedererkennen, deshalb habe sie wohl eine so grosse Begeisterung für die südamerikanischen Tiere. Auf die Frage, wie die Liebe zu den Kameliden denn geweckt wurde, antwortet die Tierfreundin mit einem ansteckenden Lachen. Dann rückt sie heraus mit der Geschichte, die ihren Anfang auf einem Erdbeerfeld nahm. Über dieses Feld stapfte Tanja Burkolter vor zwölf Jahren, als sie auf einem Landwirtschaftsbetrieb in Mühledorf SO lernen wollte, wie man die roten Beeren anbaut. Ihre Aufmerksamkeit galt aber schon bald weniger den Erdbeeren und mehr den auf dem Hof heimischen Lamas. Damals noch ein exotischer Anblick in der Schweiz. Völlig fasziniert von diesen Tieren, beschloss Tanja Burkolter, statt auf Früchte fortan auf flauschiges Fell zu setzen. Ihrem Praktikumsbetrieb in Mühledorf kaufte sie vier Lamas ab, bald war die Truppe auf sieben Tiere angewachsen.

Nase an Nase

Lamas und Alpakas seien 2010 noch eine Seltenheit gewesen. Bemerkt hätte sie dies, als sie damals ein Plüschlama für die tiergestützte Intervention kaufen wollte. Erst nach langer Suche sei sie im Shop des Zürcher Zoos auf ein verstaubtes Lama gestossen, so Burkolter. Heute gucken einem die «No Drama Lamas» von unzähligen Tassen, T-Shirts oder Kissen entgegen. Auch in leibhaftiger Form scheint man nicht mehr um die südamerikanischen Kamele herumzukommen. Auf der Alp-weide im Wallis sind sie als Herdenschützer tätig, neben dem Bauernhaus im Mittelland ersetzen sie die Schafe als Landschaftspfleger und uns Zweibeiner begleiten sie auf leisen Sohlen quer durchs ganze Land auf Trekkings. Der Verein der Neuweltkameliden Schweiz schätzt, dass Ende 2022 rund 3000 Lamas und 6000 Alpakas in der Schweiz heimisch sind. Seit der Jahrtausendwende hat sich ihr Bestand in der Schweiz verzehnfacht.

«Es nervt mich, dass die Lamas auf das Speien reduziert werden.»

In gleichem Masse wie die Population der Andenbewohner muss auch die Anzahl der Menschen mit Fachkenntnissen zu diesen Tieren wachsen. «Wichtig ist, die Lamas lesen zu können und zu erkennen, wenn sie sich nicht wohl fühlen», sagt Tanja Burkolter. So werden auch Spukattacken vermieden, denen eindeutige Drohgebärden, wie Ohren anlegen und den Kopf in den Nacken werfen, vorausgehen. Während dieTiere einen Artgenossen, der zu sehr auf die Pelle rückt, schon hin und wieder mit einem Gemisch aus Mageninhalt und Speichel auf Distanz halten, komme das im Kontakt mit Menschen nur selten vor. «Es nervt mich, dass die Lamas auf das Speien reduziert werden», sagt die Fachfrau. Unkenntnis über das Verhalten der Lamas führe auch dazu, dass ihr oft sogenannt schwierige Vierbeiner zur Übernahme angeboten werden. Als«Lamaflüsterin» bietet sie privaten Haltern Beratung im Umgang mit ihren Tieren an. Etwa, wenn bereits das Aufhalftern in ein Fangspiel ausartet. «Lamas sind im Umgang nicht kompliziert, wenn man weiss, wie sie funktionieren», ist die Lamaliebhaberin überzeugt. Fälschlicherweise werden die Kameliden oftmals für Kuscheltiere gehalten, denn ihr fluffiges Fell lädt zum Knuddeln ein. Doch Lamas sind Distanztiere, unter-einander machen sie keine Fellpflege wie etwa Pferde, die sich genüsslich gegenseitig kraueln. Was aber nicht heissen will, dass sich Lamas nicht für ihr Gegenüber interessieren. Beim Betreten des Freilaufstalles dauert es nicht lange, bis sich der braune Wallach Sirius aus der Gruppe löst und direkt auf die Besucher zukommt. Der grossgewachsene Sohlengänger will wissen, was auf dem amaLama-Hof vor sich geht. Erst wird man neugierig aus nächster Nähe beäugt und dann nähert sich die Lamanase ganz vorsichtig der menschlichen, die auf etwa gleicher Höhe liegt. Lamas suchen auf äusserst feinfühlige und ruhige Weise den Kontakt. Dazu passen ihre Lautäusserungen; untereinander verständigen sich die Kameliden mit leisen Summtönen. «Viele unserer Kunden haben anfangs etwas Respekt, weil sie die Tiere nicht einschätzen können. Den Hof verlassen die allermeisten aber als Lamafans», sagt Tanja Burkolter.

Pediküre mit der Baumschere

«Schaue niemals einem Lama zu tief in die Augen, denn du wirst dich darin verlieben.» Dieses südamerikanische Sprichwort bewahrheitete sich bei der einen oder anderen amaLama-Besucherin. Und manchmal wird die Lamaliebe so stark entfacht, dass dann eigene Tiere angeschafft werden. Auch wenn die domestizierten Neuweltkameliden relativ anspruchslos sind, gilt es bei ihrer Haltung und Pflege einige Dinge zu beachten. Als erstes muss ein entsprechender Sachkundenachweis abgelegt werden. Da Lamas Herdentiere sind, dürfen sie niemals allein gehalten werden. Ihr Futter soll aus Gras und Heu bestehen, plus Wasser zum Trinken. Tanja Burkolter gibt ihren Tieren täglich etwas Kraftfutter, angereichert mit Mineralsalz. Dies aber nur, weil die Lamas bei ihr viel leisten. Als Schutz vor der Witterung ist ein Unterstand von mindestens zwei Quadratmetern pro Tier notwendig.

Jeweils im Frühjahr, je nach Temperaturen im April oder Mai, werden die Lamas geschoren, sodass das schützende Fell bis zum Winter wieder gut nachgewachsen ist. «Mittlerweile hat mein Partner dies bestens im Griff, früher mussten wir jeweils noch Fachleute zur Schur beiziehen», sagt Burkolter. Die Wolle ihrer 23 Tiere verkaufen sie an die Spycher-Handwerk AG in Huttwil. Dort wird sie zu Isolationswatte verarbeitet. Obwohl ursprünglich die Alpakas zur Wollgewinnung und die Lamas als Lasttiere gezüchtet wurden, kann auchLamawolle auf vielfältige Weise genutzt werden. Deren Farbe changiert über Weiss bis Grau, Braun oder Schwarz und wird zu Garn verarbeitet oder zur Füllung von Bettdecken verwendet.

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Mittlerweile haben sich einige Tierärztinnen auf Neuweltkameliden spezialisiert, die Kastrationen, Zahnoperationen oder die Impfung problemlos vornehmen können. Keine tierärztliche Hilfe braucht es jedoch für die Pediküre. Die beiden stattlichen Zehennägel pro Fuss müssen regelmässig gekürzt werden. Eine Baumschere sei bestens für die Lamapediküre geeignet, sagt die Kennerin. Da ihre Tiere so viel auf hartem Grund unterwegs sind, erübrigt der natürliche Abrieb deren Einsatz. Nicht mehr ganz so viel unterwegs sind die beiden 18-jährigen Oldies aus der amaLama-Truppe, Bianca und Pluto. Arthrose macht ihnen das Leben schwer. «Ich hoffe, dass der Zeitpunkt, die beiden loszulassen, noch nicht gekommen ist», so Burkolter. Einige ihrer Schützlinge seien 25 Jahre alt geworden und haben vielen Zweibeinern beigebracht, sich fokussiert und verantwortungsvoll auf den Weg zu machen.