Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war es gang und gäbe, Kaninchen zu essen. In Zeiten, in denen viele Familien sich Fleisch nur dann leisten konnten, wenn sie Tiere zur Selbstversorgung hielten, gab es kaum städtische Arbeiterquartiere ohne Kaninchenställe. Zu sehen waren sie auch in den Vorgärten in den Agglomerationen und neben den Rinder- oder Schweineställen auf dem Land. Doch mit dem zunehmenden Wohlstand der Schweizerinnen und Schweizer verschwand der «Braten des kleinen Mannes» zusehends vom Speiseplan.

Die herzigen, flauschigen Tierchen wurden zu Zuchtobjekten für Ausstellungen und zu Lieblingen der Kinder, die sie vor allem herumschleppen und mit ihnen schmusen wollen. Das Ausmisten und Füttern ist allerdings meistens Sache der Eltern. Früher jedoch waren in vielen Haushalten die Kinder verantwortlich für die Chüngel. Dieses Konzept sei ebenso verloren gegangen wie die Idee, dass Kaninchen auch Fleischlieferanten sind, sagt Felix Näf mit Bedauern in der Stimme.

Der 60-Jährige entdeckte seine Leidenschaft für die Langohren schon, als er in Geltwil oberhalb von Muri im aargauischen Freiamt aufwuchs und eine Lehre als Landwirt absolvierte. Der Vater betrieb noch Milchwirtschaft auf dem Hof, doch die Kühe sind längst ausgezogen und haben den Kaninchen Platz gemacht. Er habe eigentlich immer schon «chüngelet», sagt Näf. «Meine Frau Rosmarie und ich kennen uns seit über 40 Jahren. Und sie kennt mich nicht ohne Kaninchen.» Auch die Fleischproduktion habe immer schon in seinem Hinterkopf herumgespukt.

Der Ungarn-Skandal

Anfang der 1990er-Jahre machte Felix Näf sein Hobby zum Nebenerwerb. Er baute seinen ersten Kaninchenstall und verkaufte die Tiere lebend einem Chüngel-Metzger. Dann aber hätten sie in einem Sommer 500 Tiere gehabt, die der Metzger nicht alle aufs Mal habe übernehmen können, so Näf. «Also begannen wir als Notlösung, sie selbst zu schlachten.» Das habe er als Bub gelernt. «Unser Nachbar sagt mir, dass ich ein krankes Tier nicht einfach sterben lassen könne», erinnert er sich und weiss auch noch, dass er als 14- oder 15-Jähriger bei der ersten Schlachtung heulen musste.

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Aus der Notlösung und dem Nebenberuf ist vor Jahren ein Hauptberuf geworden. Mit ihrem 2004 gegründeten Unternehmen Kani-Swiss ist die Familie Näf der grösste Player in der Schweizer Kaninchenfleischproduktion. In die Hände gespielt haben ihr vier Jahre später schockierende Bilder unhaltbarer Zustände und kranker Kaninchen aus Ungarn. Der Skandal rund um die dortige Käfighaltung führte dazu, dass der Detailhändler Coop entschied, kein ausländisches Kaninchenfleisch mehr zu verkaufen. «Wir haben Coop bereits vorher beliefert, aber seither wurde es immer mehr», erklärt Silvan Näf.

Der bald 29-jährige Sohn stieg vor einigen Jahren in den elterlichen Betrieb ein. Nach einer längeren Auslandreise und einer Art Probezeit bei Kani-Swiss hat den gelernten Lastwagenmechaniker das Businessgepackt. Er absolvierte noch eine Ausbildung als Agrotechniker, sieht sich aber weniger als Landwirt. «Ich bin eher der Macher, der gerne Lösungen für Probleme sucht», sagt Silvan Näf.

Anspruchsvolle Nutztiere

Und so ist die Aufgabenteilung in der Familie Näf klar geregelt: Silvan ist für den Schlachthof und den Handel zuständig, die Mutter Rosmarie für die Buchhaltung und die Personaladministration – das Unternehmen hat insgesamt acht Vollzeitstellen – sowie Vater Felix für die Tierhaltung. Dabei unterstützt ihn demnächst der 24-jährige Philippe, zweiter Sohn und ausgebildeter Landwirt.

«Kaninchen sind sehr schreckhaft und schnell gestresst»

Für die Arbeit mit Kaninchen braucht man Fingerspitzengefühl. Sie seien anspruchsvolle Nutztiere, bestätigt Felix Näf. Die Verdauung sei ihr Hauptproblem, bei Kani-Swiss bekommen sie Öko-Heu und für den Vitaminhaushalt Würfelfutter. Ausserdem sind sie Fluchttiere und deshalb sehr schreckhaft. Aus diesem Grund meldet sich Felix Näf an, wenn er den Stall betritt, und redet mit den Tieren. Und schliesslich sind sie schnell gestresst. «Alles kann sie stressen», stellt Silvan Näf trocken fest, und die nicht abschliessende Aufzählung seines Vaters lautet: Wetterwechsel, falsche Temperaturen oder wenn sie zu früh oder zu später von der Mutter weggenommen werden. Es gebe unzählige Faktoren zu berücksichtigen.

Rückzugsmöglichkeiten nötig

Deshalb seien sie ständig daran, das Haltungssystem zu verfeinern. Felix Näf hat das System weitgehend selbst konzipiert und weiterentwickelt und dafür auch in Deutschland Preise erhalten. Die mehreren tausend Kaninchen werden nach dem Tierwohlprogramm «Besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme» (BTS) des Bundes gehalten, für die es auch Direktzahlungen gibt. Es sei der höchste mögliche Level, mit dem man Kaninchen züchten kann, ist Näf nach über 40 Jahren Erfahrung überzeugt.

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In seinem System leben die Kaninchen in Gruppen, bestehend aus sechs bis acht Zibben und einem Rammler, auf 12,8 Quadratmeter Fläche mit viel Einstreu und Holz, an dem sie nach Belieben herumnagen können. Und auch wenn Chüngel ausgesprochene Familientiere sind, brauchen sie Rückzugsmöglichkeiten und Orte, um sich zu verstecken.

Dies alles ist in den Ställen von Kani-Swiss der Fall. Die Boxen bestehen aus mehreren eingestreuten Etagen, auf denen die Kaninchen nach Lust und Laune rauf- und runterhüpfen können, sowie diversen Winkeln, wo sie sich verstecken oder einfach mal eine Pause von den anderen einlegen können. «Ausser während der Siesta mittags sind sie ständig unterwegs», sagt Stallchef Felix Näf.

Muttertiere leben in Gruppen

«Einmalig ist bei uns ausserdem, dass wir Muttertiere zu acht in Gruppen halten», erklärt Silvan Näf, «das hat sonst niemand.» Sechs- bis achtmal pro Jahr gibt es Nachwuchs bei den Häsinnen – da die Zibben mehrheitlich künstlich besamt werden, gebären alle ziemlich am gleichen Tag. Jede Mutter habe dafür ihr eigenes, geschütztes Nest, zu dem nur sie Zugang hat und in dem die acht bis elf Jungen bleiben, bis sie abgesetzt sind. «Einzelne sind auch schon früher unterwegs.»

Diese geschieht bei 20 Partnerbetrieben. Als sie die Nachfrage mit dem, was sie selbst produzierte, nicht mehr decken konnte, begann die Familie Näf, mit Landwirten in der Region zusammenzuarbeiten. Diese mästen teilweise auch, halten aber hauptsächlich die Muttertiere. «Die Jungen bleiben vier Wochen bei der Mutter und kommen dann zu uns zur Mast», beschreibt Felix Näf den Ablauf.

Heim- oder Nutztier
Als Haustiere sind Kaninchen insbesondere bei Kindern beliebt. Dabei geht vergessen, dass die kleinen Nager es eigentlich nicht mögen, geknuddelt und herumgetragen zu werden. Wie viele Chüngel als Heimtiere in der Schweiz leben, weiss man nicht. Bekannt ist aber die Zahl der Kaninchen als Nutztiere, da man den Betrieb anmelden muss und anzugeben hat, ob man sie zur Mast oder zur Zucht hält. 2020 waren es 54 397 Kaninchen, was 4,2 Prozent weniger war als im Jahr davor. Registriert waren 1803 Kaninchenhalter, davon befanden sich 323 im Kanton Bern, 265 im Kanton Luzern, 145 im Kanton St. Gallen und 131 im Aargau. Blickt man allerdings auf die Zahl der Tiere, schwingt der Aargau mit 22 319 Kaninchen weit oben aus, gefolgt von Bern (8376), St. Gallen (5395) und Luzern (4514).

Geschlachtet würden sie, wenn sie etwa drei Monate alt sind. Und dabei ist Planung wichtig, da die Böcke aus der Gruppe raus müssen, bevor sie mit dreieinhalb bis vier Monaten geschlechtsreif sind. «Wenn sie scharf werden, gehen sie aufeinander los», erklärt Felix Näf. Früher hielt er Weisse Neuseeländer, Burgunder und Kalifornier. Heute sind es Hybrid-Kaninchen mit weissem Fell namens «Hycole», einer in Frankreich eigens zur Fleischproduktion entwickelten Rasse, die Näf zur Blutauffrischung auch von dort importiert.

«Sie hat das Fleisch am richtigen Ort», hebt Silvan Näf hervor. Dennoch gibt es bei Kani-Swiss nicht nur die sprichwörtlichen Filetstücke. Im Gegenteil: «Wir produzieren und verkaufen das ganze Tier», betont Felix Näf. So auch die Althäsinnen, die werfen, bis sie etwa zwei Jahre alt sind, und die Rammler, die spätestens als 3-Jährige ausgetauscht werden müssen, um Inzucht zu vermeiden.

Das ganze Tier nutzen

Verwertbar sei alles – ausser den extrem harten Zähnen und Teile der Vorderläufe. Die Felle gehen in die Kleiderindustrie. Die Innereien, Knochen und Pfötli sowie die getrockneten Ohren verkauft die Familie als Hundefutter «Kani-Dog». Alles andere ist für den Menschen. Kani-Swiss beliefert Unternehmen, die das Fleisch für Restaurants und Altersheime weiterverwerten, und eben Coop. Schon beim Detailhändler hat man von Filet und Schenkel über Leber und Ragout mit Bein bis zum ganzen Kaninchen ein recht grosses Angebot. Im kleinen Hofladen in Geltwil und auf dem samstäglichen Markt in Aarau enthält das Sortiment überdies Geschnetzeltes, Hackfleisch, Filet im Teig, Rauch- und Trockenwürste, die ein Metzger herstellt, sowie Hamburger, die die Näfs machen – alles also, was Chüngelfleisch-Liebhaber begehren.

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Das helle Fleisch ist zwar mager, aber nicht ganz fettfrei, was ihm viel Aroma verleiht. Es ist cholesterinarm und reich an Vitamin B12. Zudem hat es laut Silvan Näf fast dreimal mehr Eisen als Poulet. «Es ist das Diätler- und Sportlerfleisch schlechthin.» Und für seinen Vater Felix ist die Sache klar: «Kaninchen ist das gesündeste Fleisch, das es gibt.»

Trotzdem essen es die Schweizerinnen und Schweizer kaum. Bei 21,02 Kilogramm Schweinefleisch und 14,18 Kilogramm Geflügel weist die Statistik einen jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von 140 Gramm Kaninchenfleisch auf. Und wenn es auf dem Teller landet, dann vor allem im Tessin, etwas weniger in der Westschweiz und so gut wie nie in der Deutschschweiz. Auch die Skandale rund um die Haltung in Ungarn sind offenbar vergessen. So wurde 2020 hierzulande mehr importiertes Kaninchenfleisch (716 Tonnen) verkauft als inländisches (529 Tonnen).

Silvan Näf spricht von einem «schwierigen Markt». In der Tatsache, dass der Kaninchenfleischkonsum gering ist, sieht er aber auch eine Chance: «Wir sind nicht zu gross für kleine Händler und nicht zu klein für grosse.» Deshalb solle Kani-Swiss lieber langsam wachsen, damit man langfristig gut aufgestellt sei, als schnell und mit nur kurzem Erfolg.

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